Das alles hatte Paul durchdacht, wieder und immer wieder. Zwischenzeitlich hatte er sich dem mittlerweile völlig verschlissenen Abschiedsbrief gewidmet und erneut losgeheult. Oder er fingerte an dem wunden Rest seiner Zunge herum. Dann hatte das Lippenknabbern begonnen. Später, als er schon längst aus der Klinik entlassen worden war, hatte er erkannt, wie vielfach diese ihm auferlegte Rache ausgefallen war.
Seine Liebste war tot, man ließ ihn nicht an ihr Grab, er hatte keine Zunge mehr, konnte seinen Beruf demnach nicht mehr ausüben, und zusätzlich hatte man ihm die Möglichkeit geraubt, sich in einem Gespräch mit seinem Bruder bekanntzumachen. Es hätte ihm viel bedeutet das mit eigenen Worten zu tun. Wie auch immer diese Begegnung nun ausfallen würde, niemals mehr könnte sie von einem Gespräch getragen werden.
Ein weiterer Tropfen, der dafür gesorgt hatte, dass sein bis zum Bersten gefülltes Trauerfass kurz vor dem Überlaufen war. Der Pegel zitterte bedenklich einer Explosion entgegen, seine Rachepläne rieben sich die Hände heiß. Die gewichtigen Schatten seiner Betrübnis wurden von einer ungeheuren Wut abgelöst. Diese gestaute Energie der Wut kochte in seinem Inneren, doch sie war noch nicht bis in die direkte Handlungsbereitschaft gelangt. Er hatte Skrupel.
Zu diesem Zeitpunkt hatte Paul immer noch Bedenken zurückzuschlagen, um sich an Aishas Familie ebenfalls zu rächen. Moralische Bedenken. Seine Erziehung war lückenlos traditionell konservativ und katholisch geprägt, sie hatte nicht genügend Freiraum genossen, um sich individuelle Verurteilung und daraus folgend kriminelle Tat als legal zurechtbasteln zu können. Er wurde zusätzlich von dem dreifachen Menschen-Retter-Syndrom abgebremst, dem des braven Chirurgen in sich selbst, dem seines Vaters und seines Großvaters. Eine geeinte Kraft, die gegen das Rachebedürfnis antrat, ungeachtet dessen, was ihm widerfahren war,
Noch stand er auf des Messers Schneide. Eine Seite in ihm schrie und stampfte der Rache entgegen, während die domestizierte Seite, die den Gesetzten seiner eigenen Gesellschaft gehorchende, sogenannte gute Seite, ihn zurückzerrte. Das Schwungrad seiner Überlegungen hatte sich heiß gelaufen. Erlaubtes und Verbotenes, Machbares und Unmögliches, das Gute und das Böse, diese Begriffe steckten im Drehkreuz seiner Gedanken fest, zu gleichen Gewichten. Dann brach er mit einer frischen Idee dieses Gleichgewicht, riss sich aus seinen eingefleischten Skrupeln, indem er gedanklich, vorsichtshalber nur gedanklich, in die Rolle eines Mitglieds jener moslemischen Gesellschaft schlüpfte, welche die Selbstjustiz als entschuldbares Vergehen zur Rettung der Ehre behandelte und vollzog. Jene Ehre, die es nun für Paul ebenfalls zu retten galt?
So könnte er es von außen betrachtet haben, einfach nur als seine persönliche Rechtfertigung. Denn drinnen, in diesem verwirrten Paul, war die Ehre ein stummes Etwas, das schon seit Jahrzehnten in einer hintersten Ecke kauerte und an Nachlässigkeit gewöhnt war. Es verlangte ihn eher nach greifbarer Rache, nach einer Süße, die er nach ihrer berühmten Versprechung schmecken wollte.
Nach diesem internen Ehre- und Rachegesetz, welches Aishas Familie, seiner Vermutung nach, an ihm erfüllt hatte, hoffte Paul ebenfalls handeln zu können, ohne sich schuldig fühlen zu müssen. Das war der zweite Angelpunkt. Er würde sich, wenn er seine Rachepläne in die Tat umsetzte, schuldig fühlen, aber sein Schuldmaß war, seiner Empfindung nach, längst überfüllt. Er wollte nicht einen Gramm mehr Schuld tragen als er ohnehin schon mit sich schleppte. Egal, ob er im Gefängnis landen oder allein in irgendeiner Höhle sein Leben fristen würde, er wäre der Schuld immer und überall ausgeliefert. Er allein, mit sich und der Schuld. Er ekelte sich vor Schuld, weit mehr als vor dem Schmerz.
Paul war erpressbar durch Schuldgefühle, sie hatten ihn seit seiner Kindheit begleitet. Er trug die Schuld am Tod seiner Mutter in sich. Diese Last hatte ihn aber nicht generell kleinlaut, ängstlich oder gemein werden lassen, im Gegenteil, sie hatte ihm möglicherweise seine zurückhaltend freundliche Art zugespielt. Er hatte die Eigenschaft entwickelt, sich seinen Mitmenschen zu nähern, um deren Schuldgefühle und eventuelle Schuldigkeit zu erforschen und um diese Ergebnisse für sich zu verwerten. Er wollte wissen, wie der Rest der Menschheit mit Schuld umging.
So hatte Paul sich stets geduldig den Klagen seiner Patienten gewidmet. Patienten, die abseits von ihren körperlichen Beschwerden meist auf eine Schuld zutrieben. Es handelte fast ausschließlich von Schuld.
Paul hatte sich immer intensiv mit seinen Patienten ausgetauscht und dabei auf seine Weise, instinktiv, nach einer verlässlichen Medizin gegen seine Schuldgefühle geforscht. Wie kamen andere Menschen mit ihrer Schuld zurecht?
Diese Gespräche rutschten oft in eine Beichte an ihn ab. Paul hatte dabei Fakten gesammelt und manches Geheimnis, das jede Moral verhöhnte, erfahren. So hatte er recht bald erkannt, dass nach seinem Verständnis, der große Unterschied zwischen Mensch und Mensch nicht durch das Geschlecht geformt wird, sondern dadurch, dass es Jene gab, die sich schuldig fühlten oder sich schuldig fühlend gemacht wurden, und Jene, die diese Schuldgefühle in anderen erzeugten, selbst wenn es eine kollektive Schuld betraf, die durch das allgemeine Verständnis von Gut und Böse reguliert wurde. Ein Verständnis, das natürlich schwanken musste. Je nach Zeitalter und Gesetzgebung konnte ein Mensch daran zerbrechen. Der Einzelne konnte nicht durch das Kollektiv erlöst werden. Keine Schuld konnte geteilt werden, wogegen sie sich mit jeder Beteiligung eines Nächsten sogar multiplizierte. Mögliche, im Kollektiv empfundene Schuld, egal wodurch sie ausgelöst worden war, richtete sich schmerzgradmäßig immer nach dem individuell Empfundenen. Es spielte keine Rolle durch was die Schuld in Bewegung gekommen war. Selbst wenn es ungerechtfertigt war, das Bewusstsein der Schuldigkeit war dasselbe, wie ein durch Glück oder Unglück verursachtes. Dass ein Glücksgefühl von seidenen Fäden gehalten wurde, wogegen die Schuld mit schweren Ankerketten hantierte, war kein Geheimnis, auch nicht für Paul.
Ihm war unbegreiflich, dass ein Glaube so stark wirken konnte, um Jemanden durch eine Beichte vor priesterlichen Ohren von seiner Schuld zu befreien. Dass dadurch eine Riesenschweinerei, die man angestellt hatte, vergeben werden konnte. Sogar und besonders vor sich selbst vergeben. War es der unbedingte Glaube, der so etwas fertigbrachte? Oder war es eine mindere Schwere der Schuld, welche diesen Gläubigen zu erstrebter Leichtigkeit verhalf?
Auch das hatte Paul bei seinen Patienten erkannt, obwohl ihm kein weiterer Fall von Muttermord zu Ohren gekommen war. Er schien ein Einzelfall zu sein.
Aus den Zusammenkünften mit seinen Patienten, die eigentlich, wie sein Vater betont hatte, ausschließlich seiner chirurgischen Versorgung unterliegen sollten, der Rest sei Sache der Psychotherapie, war ein tägliches Sammeln von Lebensfakten geworden. Fakten, die Paul sich sogar heimlich notiert hatte. Jeden einzelnen Schuldfall hatte er separat aufgelistet, und genau dieses scheinbare Interesse für den Nächsten hatte ihn so beliebt gemacht. Das hatte ihn zwar aufmerksam und geduldig für die Probleme anderer werden lassen, hatte ihm zusätzlich zu seinen Fähigkeiten auch den guten Ruf als Arzt eingebracht, den er trotz seiner Jugend schon genoss, aber es hatte sein Schuldgefühl nicht vermindert. Niemand ahnte etwas von seinem eingefleischten Schuldbewusstsein, das hartnäckig in ihm lagerte und bisher jeder Erschöpfung widerstanden hatte. Außer seinem Vater! Dieser hatte nicht nur geahnt, er hatte gewusst. Denn er hatte seinen Sohn, von frühester Kindheit an, für den Tod der Mutter verantwortlich gemacht und ihn nie wieder dieser Schuld enthoben. So war Paul regierbar gewesen, bis Aisha und die Liebe in seinem Leben aufgetaucht waren. Es war ihm wenig Zeit mit dieser heilenden Kombination geblieben, schon hatte sich die nächste große Schuld in die Startlöcher gestemmt. Der Tod Aishas.
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