Kein und Aber oder die gestohlene Zunge. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745066111
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mehr die Zeit gehabt einen Plan zu schmieden, um seine Braut aus den Fängen dieser Familie herauszerren zu können. Nun war es zu spät, er war zu langsam gewesen, zu zögerlich. Er wusste nicht einmal wo und wie sie beerdigt worden war. Er hatte den Ernst der ganzen Angelegenheit unterschätzt, er hatte versagt und er glaubte für ihren Tod verantwortlich zu sein.

      Paul hatte diesen Brief beinahe bis zur Unkenntlichkeit oft zur Hand genommen, ihn mit seinen Fingern abgewetzt und immer wieder gelesen, bis ihm klar wurde, dass es zwar ihre Handschrift war, aber nicht ihr Stil mit ihm zu sprechen. Obwohl, wenn man sich umbringen wollte, wählte man dann den normalen Ton?

      Sie hatte ihn nie bei seinem Namen genannt, von Anfang an nicht, schon vom ersten Tag ihrer Bekanntschaft an hatte sie ihn Pal genannt, nicht Paul. Und wenn sie zärtlich wurde, Pali.

      Kein attraktives Kosewort, aber es gab dümmere, und Paul mochte es, wenn sie ihn so genannt hatte. Denn genau dann hatte er in den schönsten Momenten seines bisherigen Lebens gesteckt. Ohne dabei in die Verlegenheit zu geraten, entscheiden zu müssen, ob man den Zustand nach einem gelungenem Liebesakt mit biblischer Stille betiteln durfte, oder ihn in bester Koranpoesie beschreiben sollte.

      In diesem letzten Brief nannte sie ihn Paul. Der Text war sehr unbeholfen, er zeigte wenig von der Art, wie sie sich auszudrücken pflegte. Auch erschien ihm das letzte Wort fremd.

      Nachdem er ihr einmal die Geschichte vom Aschenputtel erzählt hatte, bezeichnete sie sich scherzhaft als Aschemädchen. Dieses Wort hatte sich zwischen ihnen eingespielt, er benutzte es auch in besonderen Momenten ihrer verbotenen Zweisamkeit, und wenn sie ihm eine Nachricht im Briefkasten hinterlassen hatte, fehlte niemals am Ende des letzten Satzes, „dein Aschemädchen“

      Paul war damals fassungslos gewesen. Er hatte keinen Zweifel mehr daran gehabt, dass man Aisha gezwungen hatte diesen Brief zu schreiben. Man hatte ihn ihr höchstwahrscheinlich diktiert und sie dann aus dem Fenster gestoßen. Unfassbar, wie konnte die eigene Familie so etwas fertigbringen. Nur um die idiotische Ehre zu retten. Dieses zweifelhafte Gefüge, das über so vielen Begriffen und Vorstellungen herrschte und sein Unwesen auf der Welt an Leib und Seele trieb.

      Er machte sich immer wieder schmerzliche Vorwürfe. Er hätte sie beschützen müssen, sie von diesen Mördern fernhalten, mit ihr verschwinden müssen. Er hätte, hätte, hätte, aber er hatte nicht! Paul vergoss viele Tränen und bald darauf wurde er sprachlos.

      Aisha hatte in einem scheinbar unlösbaren Zwist gelebt, unerlaubt geliebt, und sie war diesem Zwist zum Opfer gefallen. Paul dachte endlos darüber nach. Wiederholt hatte sie ihm erklärt, dass sie sich sehnlichst wünsche ihre geplanten Kinder nicht in diesem Zwist aufwachsen zu lassen, aber auch, dass sie ihre Eltern nicht verlieren wolle. Was sollte sie tun, wie sollte sie das jemals lösen, um Allahs Willen, wie?

      Das hatte sie gesagt, ja, er erinnerte sich jetzt deutlich, sie hatte natürlich Allah um Hilfe gebeten. Es war nicht so einfach seinen Glauben zu verleugnen.

      Er lud alle Schuld auf sich, eine schwere Last, die er ganz alleine tragen wollte. Schließlich hatte er sie damals angesprochen, sie war sehr zurückhaltend gewesen und scheu. Er war ihr absichtlich öfter, aber wie zufällig, im Treppenhaus über den Weg gelaufen, hatte seinen Charme spielen lassen und ihr Vertrauen ergaunert. Und dann ihre Liebe. Eine tödliche Liebe.

      Aisha war eine junge Muslimin gewesen, die für die okzidentale Zukunft ihrer Kinder einen unverzeihlichen Sprung getan hatte. Sie hatte zu früh, sehr weit in die Ferne geblickt und für diese Ferne, danach gestrebt eine andere Religion anzunehmen. Dazu die heimlich geplante Ehe und Zukunft mit Paul. All das waren nicht nur schwer überwindbare Hürden für ihre Familie, sondern auch Bestrafung fordernde Vergehen. Ihr offizieller Verrat an der Religion, an der Tradition, an den Vätern und ihrer Unschuld, hatte die Ehre ihrer Familie in den Grundfesten erschüttert. Die ganze moslemische Gemeinde erfuhr von diesem Umstand, man war betroffen und lauerte gespannt auf Rache.

      Diese Bande hatte seine Zunge gefordert. Davon war Paul überzeugt, für ihn gab es keine andere Erklärung dieser kriminellen Tat. Das war mittelalterlich, und wie er in Erfahrung gebracht hatte, sehr wirksam gegen künftig ausgesprochene Lügen. Er hatte sich den Recherchen über Rachepraktiken vergangener Weltzivilisationen gewidmet, demnach hätte er tatsächlich auch seine Hoden verlieren können und wegen des Diebstahlvorwurfs, eine Hand oder je nach Wert des Diebesgutes, beide Hände.

      Er hatte damals seine Peiniger nicht erkannt. Vier vermummte Personen hatten ihn überfallen, mit acht Händen festgehalten und ihm eine Betäubungsspritze verpasst. Bevor Paul bewusstlos geworden war, entsetzte ihn ein mittelgroßes, modernes Seziermesser, in einer von Latex behandschuhten Hand einer fünften Person. Diese Person hatte sich langsam, beinahe zögernd und trotzdem drohend, ganz nahe über ihn gebeugt. Die weißen Handschuhe und das stählerne Blinken begleiteten ihn in den schwarzen Tunnel der Narkose. Er war nach vollbrachter Tat wie ein Müllsack vor den Toren eines Krankenhauses abgeladen worden, und er hatte drei Tage lang Blut gekackt.

      Paul konnte nur eine hoffnungslose Anzeige gegen Unbekannt starten, doch es bestand für ihn kein Zweifel daran, wer ihm diese Verstümmlung angetan hatte. Er verstrickte sich zunächst in der Furcht vor weiteren Attacken auf ihn, hatte seine Wohnung gekündigt und sich von Verfolgungsangst getrieben, einige Wochen in dem Jagdhaus seines Vaters in der Lüneburger Heide versteckt. Kurze Zeit danach zog es ihn in das luxuriöse Haus seiner Kindheit zurück, als suche er Schutz, und als würde er ihn ausgerechnet in den Dünsten des verstorbenen Vaters finden. In genau jenen Dünsten der erstickenden, lebenslangen Erwartung, Anklage und Schuldzuweisung seines Vaters an ihn, aus welchen er vor erst wenigen Monaten geflohen war. Doch mit der Wucht seiner brutal erwachten Erlebniswelt, überrumpelte er diesen Geist der väterlichen Anweisungen und Gebote. Ein Geist, der stets dürstend nach dem Sohn des Hauses durch die modern eingerichteten Räume gestreift war.

      Sein Leben war durch die Nachricht von Aishas Suizid in ein Vorher und ein Nachher zerteilt worden. Vom Tod des Vaters eingeläutet, war diese Tragödie, zusammen mit dem Rest seines Elends, wie ein einziges Erdbeben über ihn hereingebrochen. Auch wenn viele Wochen dazwischen lagen. Das Ableben des Vaters, ihr Tod, die gestohlene Zunge und dann die Krebserkrankung. Er erinnerte sich nicht mehr an ruhevolle Zwischenphasen.

      Man konnte nicht behaupten, dass Paul zuvor wie besessen an seiner Vergangenheit gehangen hatte, er hatte sie sogar gehasst, aber sie war immer präsent gewesen und hatte ihn beschwert. Es war ihm letztlich gelungen diese Vergangenheit in verstaubte Winkel zu schieben, behutsam und doch energisch, um sich entschlossen auf sein Dasein mit Aisha zu konzentrieren. Er hatte begonnen sich an der Liebe zu orientieren, mit einem freudvollen Blick auf das Morgen und einem seltenen Blick zurück.

      Nun hauste wieder Vergangenes in ihm, allerdings, jüngst Vergangenes. Seine Gesundheit war Vergangenheit, Aisha war Vergangenheit, seine Zunge war Vergangenheit. Diese unleugbaren Gegebenheiten waren zu seiner weltbewegenden Dreieinigkeit geworden.

      Die Spannung der Erinnerung, aus der erwünschten Nähe mit der Toten und seine bewusste Erwartung an ein eigenes Weiterleben, zerrten an ihm. Er schämte sich für seinen verbliebenen Lebenswunsch, der sich vermutlich aus diesem Grund vorbehielt sporadisch einzuknicken. Er empfand sich, als ein nur eventuell künftig Weiterlebender, als ein Jemand, der im Moment kaum glaubte zu leben. Er hing auf dem Warteposten zwischen Nichts und ein wenig von Etwas. Was genau dieses Etwas beinhaltete, war ihm nicht klar, doch falls es ihm noch beschert werden sollte, wünschte er es sich in Einsamkeit.

      Was würde aus seinem Beruf werden und aus der Klinik seines Vaters, die nun seine war? Paul bezweifelte, jemals dort wieder aktiv werden zu können, außerdem ließ sich das schlecht mit seinem Wunsch nach Einsamkeit vereinen. Einsamkeit, danach verlangte, danach schrie sein Herz unaufhörlich, als ein Zustand seiner Reue und Zeichen seiner Solidarität mit seiner verlorenen Geliebten. Verzicht auf das weltliche Leben. Er wollte niemanden sehen, niemanden sprechen hören. Er ahnte noch nicht, wie menschenwürdig die Einsamkeit sein konnte, ein wertvolles Geschenk des Schicksals, wenn man sich darauf verstand sie zu erkennen.

      Paul erinnerte sich wehmütig an eine Unterhaltung mit Aisha. Sie war der Meinung gewesen, dass das Hören verbinde, das Sehen ebenfalls, aber, dass das Sprechen die Seelen voneinander entferne und das Einsamkeitsgefühl