John Erpenbeck und Werner Sauter
Imprint
Kompetenzentwicklung im Netz
Copyright: © 2014 John Erpenbeck, Werner Sauter
All rights reserved
Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-188-95
1. Bedingungen der Möglichkeit von Kompetenzentwicklung im Netz
Lernen, lernen, nochmals lernen…
Warum beschleicht uns ein ungutes Gefühl, wenn wir uns diese Worte laut und gewichtig vorlesen? Warum erfüllt uns das Reden, zuweilen das Gerede vom lebenslangen Lernen nicht mit fröhlicher Genugtuung, sondern mit der bedrückenden Assoziation des Lebenslänglichen? Warum haben wir uns nach eingehenden Beratungen entschlossen, dieses Buch nicht „Kompetenzlernen im Netz“, sondern „Kompetenzentwicklung im Netz“ zu betiteln?
Die Fragen so zu stellen heißt, sie schon halb zu beantworten. Entgegen den tiefgründigen Untersuchungen von Neurobiologen, Psychologen, Pädagogen und Soziologen, die den Gesamtzusammenhang von Information und Verhalten, Wissen und Werten, Wollen und Handeln seit langem im Blick haben, verstehen wir noch oft genug das Lernen als individuellen Erwerb von Kenntnissen, von geistigen und körperlichen Fertigkeiten, auch von Fähigkeiten in einem ganz funktionalen, lehrbaren, reproduzierbaren und abprüfbaren Sinne. „Lernen kann als systematische Änderung des Verhaltens aufgrund gewonnener und durchdachter Informationen, also Wissen, durch Wahrnehmung von Veränderungen in der Umwelt bezeichnet werden“, teilt uns das Web 2.0 Vorzeigeprojekt Wikipedia dazu lakonisch mit. Und was ist mit den Verhaltensänderungen, die durch Hoffen und Glauben, durch veränderte Werte und Normen, durch gewandelte Emotionen und Motivationen zustande kommen? Sind das auch „gewonnene und durchdachte Informationen“, handelt es sich dabei auch um Wissen? Haben wir es nicht vielmehr mit Wissen in einem viel weiteren, viel tiefer gehenden Sinne zu tun?
Die gedankliche Verkürzung des Lernens auf die Aneignung von Sach- und Fachwissen, von Fertigkeiten und Qualifikationen ist eine folgenschwere Bürde für unser heutiges Lern- und Zukunftsverständnis. Sie entstand im großen Umfang mit der hoch arbeitsteiligen industriellen Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und mit der „Zurichtung“ des Menschen für diese Produktion, als Rädchen im industriellen Getriebe, bis hin zum Handgriffautomaten im Taylorismus. Trotz aller reformpädagogischen Bestrebungen, aller wahrlich kompetenzorientierten Ansätze der Montessori und Co. blieb dieses verkürzte Lernverständnis lange, ja weitgehend bis heute erhalten: Der Lehrer füttert die Lernenden mit Wissensbröckchen bis zur Übersättigung; vieles davon wird unverdaut ausgeschieden, einiges davon als Wissensspeck abgespeichert. Auf Vorrat, sozusagen. So funktioniert schulische und universitäre Bildung weitgehend bis heute. Die eigentliche Handlungsfähigkeit erwerben Schüler und Studenten ganz anders und weitgehend woanders: In der Freizeit, in der Familie, im Freundeskreis, im Verein oder im Ehrenamt, vor allem aber später - im Prozess der Arbeit selbst.
Doch es gab und gibt eine Gegenbewegung. Seit den siebziger Jahren, verstärkt seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wurde immer deutlicher, dass informationelles Wissen als Vorratsspeck für künftiges Handeln nicht ausreicht. Die immer schneller ablaufenden kulturellen, politischen und ökonomischen Prozesse, die zunehmenden Regionalisierungs- und Globalisierungsprozesse erfordern Fähigkeiten zu einem kreativen und wirkungsvollen Handeln auch da, wo keine zureichenden Informationen vorhanden und zeitnah zu erwarten sind. Sie fordern von den Handelnden hohen persönlichen Einsatz, große Aktivität, lebendiges, handlungsverwobenes, fachlich-methodisches Wissen und ausgeprägte sozial – kommunikative Anstrengungen.
Es hat sich durchgesetzt, solche Fähigkeiten zum selbstorganisierten, kreativen Handeln unter Unsicherheit, in eine offene Zukunft hinein, als Kompetenzen zu bezeichnen. Dem entsprechend sind profilierte personale, aktivitätsbezogene, fachlich-methodische und sozial-kommunikative Kompetenzen zur Bewältigung dieser Zukunft gefragt.
Das wurde zuerst und schmerzhaft im Bereich der beruflichen Bildung offenbar, der von der massiven sozialen Beschleunigung als Erstes betroffen war und getroffen wurde. Es setzte sich in all jenen akademischen Disziplinen fort, die mit den ökonomischen und sozialen Auswirkungen der Beschleunigung zu tun haben: Ökonomie, Soziologie, Politikwissenschaften. Es wird, so viel ist gewiss, alle akademischen Sparten und zuletzt auch die Schule treffen.
Alle Bereiche müssen sich also Gedanken machen, wie zukunftsnotwendige Kompetenzen handlungswirksam zu vermitteln sind. Der Begriff des Kompetenzlernens könnte Falsches assoziieren: Dass man Kompetenzen wie Wissen weitergeben, auch sie als Wissensbröckchen verfüttern könne. In Wahrheit ist die Aneignung von Kompetenzen mit der so genannten Interiorisation von Regeln, Werten und Normen zu eigenen Emotionen und Motivationen verbunden. Das geschieht nur im unmittelbaren geistigen oder körperlichen Handeln, unter der Notwendigkeit, Widersprüche, Konflikte, Verunsicherungen auszuhalten, die dadurch entstehenden Dissonanzen und Labilisierungen schöpferisch zu verarbeiten und so zu neuen Emotionen und Motivationen zu gelangen. Regeln, Werte und Normen bilden die Kerne von Kompetenzen. Werden sie interiorisiert - während zugleich das notwendige Sachwissen erworben wird - sprechen wir von Kompetenzentwicklung. Um sie geht es in unserem Buch.
Das besagte Kompetenzverständnis und das angedeutete Interiorisationsverständnis bilden die Basis, auf der alle unseren weiteren Überlegungen ruhen. Sie wurden in früheren Arbeiten entwickelt und stehen uns hier originär zur Verfügung.
Neu ist hingegen das hier entwickelte Raster, um die unterschiedlichsten Methoden beabsichtigter, „intendierter“ Kompetenzentwicklung zu ordnen. Am Beginn dieser Überlegungen stand die Bitte eines Bildungsökonomen, den inzwischen umfangreich zusammengetragenen und dokumentierten Kompetenzmessungen nun doch endlich die kompetenzentwickelnden Taten folgen zu lassen und mal eben einen Überblick über die wichtigsten Kompetenzentwicklungsmethoden zu geben. Schlagartig wurde klar, dass ein solcher nicht einmal in Ansätzen existierte. Das Resultat unserer Überraschung liegt hier vor und bildet den Ausgangspunkt, um später die in Kompetenzentwicklungsprozesse einbezogenen Web 2.0 – Methoden einzuordnen.
Neu und bislang einzigartig ist auch die Analyse der so genannten Social Software, des metapherhaft als Web 2.0 bezeichneten Softwareinstrumentariums aus der Kompetenzsicht - und umgekehrt, die Analyse von Kompetenzentwicklung aus der Softwaresicht des Web 2.0. Basishypothese des gesamten Buches ist die resultierende Behauptung: Im Gegensatz zu den traditionellen E-Learning – Instrumenten, die vornehmlich zur Vermittlung von Sachwissen und Informationen taugen, sind die Instrumente des Web 2.0 hervorragend zur Kompetenzvermittlung geeignet. Diese Behauptung wird detailliert und beispielreich belegt.
Aus Kompetenz- und Interiorisationsverständnis, methodischem Kompetenzentwicklungsraster und kompetenzbezogenem Social-Software-Verstehen wird schließlich ein neuartiges Einsatzfeld des Blended Learning kreiert, das den Zusatz „New“ zu Recht verdient. Er wäre kaum zu verteidigen, wenn es sich nur um eine Fortschreibung klassischen Blended Learnings handelte. Das hier betrachtete New Blended Learning fungiert jedoch als Brücke zwischen den innovativen Bereichen Kompetenzentwicklung und Social Software. Es ist neu, indem es Neues verbindet.
Bei dieser Brückenkonstruktion bleibt unser Buch nicht stehen. Es entwickelt vielmehr einen eigenständigen Verfahrensvorschlag: „Kompetenzentwicklung mit Blended Learning und Social Software“ (KOBLESS), der methodisch so weit untersetzt ist, dass er sich sofort in konkrete praktisch – pädagogische Verfahrensschritte überführen lässt.
Man kann den Menschen nichts lehren, man kann ihm nur helfen, es in sich selbst zu finden, wusste schon Galileo Galilei. Diese Einsicht verdichteten moderne Menschenbildner zum Grundprinzip der Ermöglichungsdidaktik. Alle von uns vorgeschlagenen Verfahrensschritte haben einen solchen Ermöglichungscharakter. Sie setzen, wie es Immanuel Kant formulierte, „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“ und versuchen nicht, Erfahrungen und Kompetenzen wissensförmig weiterzugeben.
Unsere Vorschläge haben, so hoffen wir zuversichtlich, die Gegenwart auf ihrer