Leise sagte Pit: »Schlagen - schlagen darf er dich nie wieder - sonst, sonst ... «
Olaf weinte. Er stieß mit tränenerstickter Stimme hervor: »Was die nur an ihm findet, die ...!«
Pits Stimme klang böse. »Spricht nicht so, hörst du! Die - ist deine Mutter. Sie tut alles für uns.«
»Nichts tut sie! Nichts! Nichts!« schrie Olaf. Julia hörte ihn mit irgendetwas auf die Sitzplanke des Sandkastens schlagen. »Sie gehört zu uns und nicht zu ihm!«
Die Stille lag heiß und schwer auf Julia. Sie hätte sich am liebsten die Sachen vom Leib gerissen und wäre in eiskaltes Wasser gesprungen, um dieses beängstigende Gefühl des Bedrücktseins abzuschütteln. Sie verstand nicht, was Pit und Olaf so aufregte. Hing es etwa mit dem Vater zusammen, warum Pit so verschlossen, so eigenartig, so allein war?
Julia wollte nichts mehr hören. Sie wollte weg hier. Unter Menschen. Die Stadt hören, Autos, Straßenbahnen, Stimmen.
Sie nahm ihre Tasche und ging vorsichtig rückwärts, vom Baum verdeckt, von der Wiese. Als sie hinter der Kantine war, rannte sie, bis sie die Straße erreichte.
Der Lärm beruhigte sie und lenkte sie ab. Sie fand in ihrer Rocktasche noch zwei Markstücke, kaufte sich dafür Eis und schlang es hinunter.
An der Kreuzung lehnte sie sich auf das Geländer unter der Ampel. Sie hatte noch keine Lust, nach Hause zu gehen. Zu Hause würde sie auch nur allein sein. Sie könnte an den Auensee baden fahren. Aber dort würde sie Liebscher und den größten Teil der Klasse treffen. Liebscher würde eine Antwort haben wollen. Er würde verlangen, dass sie zurücknehmen sollte, was sie über Herrn Rohnke gesagt hatte.
Julia beobachtete die Menschen, die beim Grün der Ampel über die Straße hasteten. Bei Rot trippelten sie aufgeregt wartend. Die Ampel konnte sie anhalten und in Bewegung versetzen, ganz wie sie es wollte.
War nicht Herr Rohnke die Ampel der 8b? Bestimmte er nicht, wann angehalten und wann losgegangen wurde?
Ein Auto bremste kreischend. Fast wäre es bei Rot über die Kreuzung gefahren. Die Fußgänger sprangen erschrocken zurück. Sie schimpften auf den Fahrer.
Julia schlenderte nach Hause, erschöpft von diesem ersten Schultag. Schon auf der Treppe hörte sie: Die Eltern waren zu Hause.
Die Badezimmertür knallte ein paarmal ins Schloss. Gab es etwa Ehekrieg? Gleich am ersten Arbeitstag?
Julia versuchte, ungesehen in ihr Zimmer zu huschen. Aber da hörte sie Vaters Stimme, kratzig, wie immer, wenn etwas nicht in Ordnung war. »Komm doch mal, Tochter! Kannst dir ganz für umsonst das Theater mit anhören!«
Julia warf ärgerlich ihre Tasche aufs Bett. Sie mochte nicht, dass die Eltern sich stritten und sie den Schiedsrichter spielen sollte. Sie ging in die Stube, ließ sich in den Drehsessel fallen, brummte »Tag auch« und begann, sich mit dem Sessel nach links und nach rechts zu drehen.
»Sitz ruhig«, sagte der Vater. »Du drehst noch mal den Sessel durch die Dielen.«
Er saß groß und schwer auf der Liege. Die muskulösen Arme hatte er auf den Couchtisch gestützt. Die Zigarette in seinen Händen zitterte. Er hatte seinen geliebten abgetragenen Manchesteranzug an, war wie immer schlecht rasiert, und in seinem grimmig-lustigen Gesicht flackerten unruhig die hellen Augen. Das Haar hatte er sich selbst zentimeterkurz geschnitten.
»Du rauchst zu viel!«, bemerkte Julia angriffslustig. »Deine Hände zittern.«
Julia drehte weiter ihren Sessel. Der Vater sah auf seine Hände. Er versuchte sie ruhig zu halten.
Die Mutter kniff lächelnd die Lippen zusammen und nickte Julia zu. Sie war eine zierliche Frau, die sogar in ihrer Straßenbahneruniform aussah, als wollte sie gerade zum Tanz oder zum Konzert gehen. Sie war sehr hübsch, sah noch aus wie ein Mädchen, hatte lange schwarze Haare und warme dunkle Augen.
Sie stand in der Verbindungstür zur Küche und trocknete Geschirr ab. »Wie war der erste Schultag, mein Kleines?«, fragte sie.
»Sehnsucht nach Wasser und Sonne?«
»Wie ihr jetzt von solchem Zeug reden könnt!«, fuhr der Vater hoch. »Wasser und Sonne! Wasser hat sie unter der Dusche! Und dreißig Grad im Schatten reichen wohl für einen Sonnenstich!«
Die Mutter warf Julia ein Geschirrtuch zu.
Julia sagte: »Papsch, du könntest wieder einmal abwaschen. Verlernst es sonst noch ganz.«
Julias Vater erhob sich stöhnend. Unter der Deckenleuchte musste er sich bücken. Er kam in die Küche, streifte sich missmutig die Hemdsärmel hoch und begann mit viel Geklapper das Geschirr zu spülen.
Julia und ihre Mutter trockneten ab. Sie wussten: Gleich würde Vater herausplautzen.
Es dauerte nur Sekunden, bis er sich aufrichtete, Spüllappen und Suppenteller in den Händen. »Das ist doch kein Familienleben!«, polterte er los. »Eine Ehe - dass ich nicht lache! Du Frühschicht, ich Spätschicht! Du Spätschicht, ich Frühschicht! Die paar Minuten, in denen wir uns sehen, die reichen gerade für:- Na, wie geht's denn, Frau Leißner? Hat Ihre Straßenbahn den Rostfraß, oder ist eine Schraube locker?-«
Julia und ihre Mutter lachten gleichzeitig los.
Die Mutter fiel ihrem Mann um den Hals und zog sich an ihm hoch. »Du übertreibst mal wieder. Schließlich kommen wir sogar noch dazu, gemeinsam den Abwasch zu erledigen.«
»Es ist doch wahr. Mit geht das gegen den Strich! Drei Jahre geht das nun schon! Mir reicht es! Na, Julia, nun sag du mal was! Bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen! Heute sagt deine Mutter mir so nebenbei, dass die Verkehrsbetriebe keinen triftigen Grund sehen, sie nur in der Frühschicht arbeiten zu lassen! Ist denn unsere Ehe kein triftiger Grund. Himmelherrgottnochmal!«
Julia trocknete noch immer die erste Tasse ab. Sollte denn der Streit heute überhaupt nicht enden? Erst in der Klasse und jetzt zu Hause.
»Was soll ich sagen«, antwortete Julia. »Mutschs Kollegen sind alle verheiratet. Jeder will nur Frühschicht fahren. Von mir aus. Da fährt eben ab Mittag keine Straßenbahn mehr. Laufen soll ja so gesund sein.«
»Du kannst wohl nie ernst bleiben«, rügte der Vater. »Immer diese Verallgemeinerungen. Ich wünschte mir, du würdest bald einmal ein bisschen erwachsener.«
»Wie soll denn das aussehen? Dass ich dir recht gebe? Warum versuchst du eigentlich nicht, nur Frühschicht zu arbeiten? Da gibt es weniger Bier. Und wenn es weniger Bier gibt, gibt es auch weniger Betrunkene. Und wenn es weniger Betrunkene gibt, gibt es auch mehr Ruhe.«
Julias Vater ließ den Suppenteller geräuschvoll in das Spülbecken gleiten. »Das sind ja eigenartige Rechnungen, Tochter. Eigenartige Rechnungen, sage ich ... « Er hatte aufbrausen wollen, war aber unsicher geworden. Die Mutter versuchte zu schlichten, zu vermitteln. Sie mochte keinen Streit. Und vor allem mochte sie nicht, dass ihr Mann verärgert war, dass er die Augen zusammenkniff und zwischen seinen Augen eine steile Falte lag. Sie wollte ihn lustig, immer zu einem Scherz aufgelegt, voller Kraft und Hoffnung, so dass sie sich an ihn lehnen und etwas von seiner Stärke aufnehmen konnte. Sie war oft unsicher, was die Beziehungen zu Menschen anging. Selbst Julia gegenüber fühlte sie sich manchmal als Mutter zu jung, zu unerfahren. Nur wenn sie die Straßenbahn durch den Stadtverkehr fuhr, spürte sie Sicherheit, denn sie wusste, dass ihre Augen und Ohren ihr gut gehorchten und sie die Bahn und die Tücken der Stadt gut kannte.
Sie wollte jetzt ablenken von dem Problem Schichtarbeit und fragte Julia, deren Unruhe ihr nicht verborgen blieb: »Hat Pit dich heute morgen wach bekommen? Oder hast du etwa verschlafen?«
Der Vater versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden. Das Streichholz zündete nicht. Seine Hände waren zu nass. Ärgerlich sah er auf seine Frau und Julia.
»Ich habe nicht verschlafen« beruhigte Julia ihre Mutter.