Töchter aus Elysium. Werner Siegert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Werner Siegert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847699941
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L i e b e ? Was ist das?

      „Und nun stehen wir allmählich auf, lieber Herr Elsterhorst. Kommen Sie, ich stütze Sie!“

      Jetzt stellte er erst einmal fest, in welcher lächerlichen Anstaltskleidung man ihn hier - offenbar ohne Bewusstsein - in dieses Bett gelegt hatte. Schamröte stieg in sein Gesicht. Und dies alles in unmittelbarer körperlicher Nähe zu dieser jungen Frau! Er versuchte, sich aus dieser Hilflosigkeit, aus diesem Kontrollverlust zu befreien und wäre beinahe gegen den Türpfosten gefallen.

      „Langsam, langsam, nicht gleich den stolzen Ritter markieren! Das kommt schon noch. Jetzt gehen wir erstmal ganz langsam aufs Klo und dann duschen wir. Da steht ein Stuhl in der Dusche. Damit wir nicht stürzen!“

      Sooo geschämt hatte er sich nicht einmal bei der Massage durch die Edwina Kyndinos im Seniorenknast! Dass er sich an diese Szene noch so genau erinnern konnte, bewies ihm, wie tiefgreifend ihm die Erniedrigung damals schon zugesetzt hatte. Und jetzt hier nackt?

      Er versuchte, wieder ins Bett zurückzufallen. Da jedoch unterschätzte er die Kraft und Entschiedenheit der geschulten Krankenschwester.

      „Wir haben es ja gleich geschafft. Dann fühlen wir uns schon viel, viel besser. Und inzwischen kommt schon das Abendessen! Heute noch ausnahmsweise im Zimmer!“

      Noch nie hatte Elsterhorst vor einer fremden Frau - vor welcher denn überhaupt? - seine Unterhose runtergezogen! Höllenqualen! Höllenqualen! Judith, hol’ mich hier raus, hol’ mich hier raus!

      Dann prasselte der kalte Wasserstrahl auf seinen Rücken. Tief gebeugt kauerte er auf dem Plastikstuhl, um wenigstens etwas seine Intimzone abzudecken. Aber das Abtrocknen! Das Abtrocknen! Dann spürte er, wie plötzlich alle seine Abwehrkräfte einer totalen Resignation wichen. Jetzt auf einmal war ihm alles egal. Sein Wille war gebrochen. Wie Schlachtvieh ließ er sich von Schwester Angela führen. Sie hüllte ihn in einen weißen Bademantel. Rote Plastik-Flipflops standen bereit. Das machte ihm nun auch nichts mehr aus. Flipflops! Der Inbegriff der Kulturlosigkeit in seinen Augen! Und nun hatschte er mit diesen roten Dingern zurück ins Zimmer.

      Dann klopfte es. Eine andere Schwester platzierte unter einer riesigen grauen Plastikhaube das Abendessen auf den Tisch. Und es setzte gleich eine Verwarnung an Schwester Angela:

      „Wir haben auch noch andere Patienten, falls Sie das vergessen haben sollten. Melden Sie sich bitte bei der Pflegedienstleiterin, sobald Sie den Herrn hier abgefertigt haben!“

      „Das war Schwester Ursula! Jetzt haben Sie gleich eine Kostprobe bekommen! Es sind nicht alle so wie ich. Aber morgen bin ich ab Mittag wieder für Sie zuständig!“

      Schwester Angela hob noch die graue Abdeckung vom Essenstablett. Darunter kümmerte nur ein Teller lauwarme Fleischbrühe mit Einlage vor sich hin. Dazu drei Zwieback und ein Würfel Butter.

      „Guten Appetit!“ wünschte die Schwester mit verständnisvollem Lächeln. „Und Gute Nacht! Ich muss mich leider bei der Oberbefehlshaberin zur Stelle melden!“

      Gibt es so etwas wie Amour fou?

      Immer wieder kassierte Schwester Angela Rügen durch die allseits gefürchtete Pflegedienstleiterin wegen ihrer Bevorzugung ‚eines Patienten’ zu Lasten der anderen, die sich angeblich schon bei ihr beschwert hätten. Frauen, vor allem ältere, hingegen beklagten sich über ihre Kälte. Eine Patientin hätte sie sogar gerügt, weil die ‚oide Truschel’ zu wenig Ordnung in ihrem Zimmer halte. ‚Gespielte Hilflosigkeit’ hätte sie vor sich hin gemurmelt, was die Patientin aber durchaus mitgehört habe. Und noch etwas: Dem Patienten Elsterhorst hätte sie nicht mit genügender Entschiedenheit verboten, das Hundebild auf den Nachttisch zu stellen. Also hatte die Kollegin Ursula sie schon verpetzt.

      Ja, in der Tat: Ihr ging dieser neue Patient Elsterhorst nicht aus dem Kopf. Ein Tornado überaus verwirrender Bilder und Emotionen tobte sich in ihr aus. Ganz plötzlich überfiel sie ein intensives Schwindelgefühl. Hatte sie sich gerade in diesen Mann verliebt? Blitzartig verliebt?

      Seine Gesichtszüge, diese so harmonisch gewellten silbergrauen Haare, das ebenmäßige Gesicht, der Tonfall seiner Sprache, die bubenmäßige Scham und Empfindsamkeit - jetzt, hier im Flur vor der Tür zu diesem Mann, neben dessen Bett sie auf sein Erwachen gewartet hatte, da war es tatsächlich so, wie es millionenfach in der Kunst dargestellt worden war: Amors Pfeil hatte sie getroffen. Röte stieg auf in ihrem Gesicht. Das Herz bumperte. Würde sie jetzt bei sich den Blutdruck und den Puls messen wie bei diesem aus dem Himmel gefallenen Mann, sie müsste den ärztlichen Notdienst benachrichtigen.

      Wie kann so etwas passieren? Schwester Angela stützte sich an der Wand ab. So et.was hatte sie in ihrem Leben noch nie erfahren. Was hatte dieser Mann an sich? Wem könnte er gleichen? Mit welchen Bildern aus ihrer Vergangenheit könnte sich seine Erscheinung vermischen? Warum empfand sie jetzt schon rasende Eifersucht, dass nach ihrer Schicht eine Kollegin, eventuell sogar die bleiche, barsche Ursula den geliebten Mann versorgen würde? „Abfertigen“ hatte die gesagt. Einen Patienten wie diesen groß gewachsenen, edlen Mann darf man nicht abfertigen. In ihn muss man sich hineindenken, ihn in seiner Befindlichkeit abholen. Ledig’ steht in seinen Aufnahme-Dokumenten. Beruf: Kriminalkommissar. War diese Judith, mit der er zu telefonieren versuchte, nur seine Schwester? Oder gar seine Geliebte? Nein, diese Vermutung könne sie gleich verscheuchen. Wäre sie denn seine Geliebte, warum hätte er statt des Hundes nicht ihr Foto auf den Nachttisch gestellt? Einen Hund - den brauchen die Einsamen, die Scheuen, die Verschlossenen, die Sehnsüchtigen. Nein, noch hatte diesen herzensguten Mann niemand richtig geliebt, aufrichtig, mitfühlend in seinem harten Beruf, in dem er täglich dem Grauen begegnet und abends, beim Nachhausekommen, niemanden hat, der ihn in die Arme nimmt.

      „Angela, wo bist du?“ hörte sie sich halblaut zu sich selbst sprechen. Angela war verwirrt. Oh ja, das wusste sie: Man spottet über Amour fou, so lange man nicht selbst zutiefst darin versinkt. Schwester Angela versuchte, ihre Füße wieder auf festen Boden zu setzen. Die Pflegedienstleiterin hat sie auf dem Kieker. Ängste stiegen in ihr auf: Würde man sie von diesem Patienten, von diesem Herzensmann abziehen? Und dann? Würde sie dann nicht ihre Mission beenden müssen? Noch hatte sie nicht alle Informationen sammeln können, die man über das Abrechnungsgebahren dieser Klinik brauchte.

      Schwester Angela flüchtete in die Damen-Toilette, nicht in die für das Personal. Da wäre sie vielleicht einer Kollegin begegnet. Hier aber könnte sie sich tarnen als eine, die sich um die Hygiene kümmert, und wenn sie allein wäre, könnte sie sich kaltes Wasser über ihr Gesicht streichen. Ob das hilft gegen die Schmetterlinge in ihrem Bauch, ausgerechnet hier im Elysium der Emanzen? Im Spiegel glaubte sie, eine völlig veränderte Angela zu erkennen. Sie ordnete ihre Haare. Ihre Lippen waren merkwürdig gerötet. Sie trotzten jetzt dem Verbot von jeglichem Lippenrot in diesem Hause. Lippen, die sich danach sehnten zu küssen. Zu küssen! Wann hatte sie zuletzt aus Liebe geküsst? Waren es schon Jahre her? Aber das war ein Horst - kein Vergleich mit einem Maurice!

      Maurice heißt er mit Vornamen. Unter welchem Sternbild ist er geboren? Das hatte sie sich noch nicht eingeprägt. Das war noch vor ... ja vor was? Vor wenigen Minuten, oder waren es Sekunden? Vor dem Liebesblitz? Maurice! Kommt er gar aus Frankreich? Hat er französische Wurzeln? Stammt vielleicht sogar aus der Provence, wohin sie alljährlich in den Urlaub fährt? Allein. Bisher allein. Ohne einen Maurice.

      Ach - mit Maurice in Avignon! Sur le pont ....

      Leise dieses Liedchen summend und etwas zu beschwingt tänzelte sie durch den Flur. Sie wandelte wie auf rosa Wölkchen und war ohnehin überzeugt, demnächst würde das Hundefoto durch eines von ihr ersetzt.

      Elsterhorst schaffte die halbe Suppe, knabberte zwei trockene Zwiebäcke. Dann holte er das Bild von seinem geliebten Hund Rinaldo aus dem Schrank und stellte es wieder auf seinen Nachttisch.

      Wenn er das vier Wochen lang durchhalten sollte, war er überzeugt, es würde ihn mehr Kraft und Überwindung kosten als ein Jahr Arbeit im Präsidium. Lieber Mörder jagen, als diese Höllenqualen täglich über sich ergehen lassen.

      Lediglich die Fürsorge durch Schwester Angela versöhnte