Hoffnungsschimmer in Trümmern - Eine Liebe in Zeiten des Krieges. Pia Wunder. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Pia Wunder
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750223448
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frisch geworden war, zog sie eine Strickjacke ihrer Mutter über ihr Sommerkleid und nahm mit Ilse auf einem der Stühle Platz. Nichts. Unter lautem Geschrei verweigerte sie die Flasche. Grete überlegte, ob ihr vielleicht etwas weh tat und wechselte die Position. Wieder nur Schreien, das zwischenzeitlich aufgrund der schwindenden Kräfte in ein herzzerreißendes Wimmern überging.

      Verzweifelt versuchte Grete es noch einmal im Schlafzimmer. Möglicherweise brauchte das Kind einfach Ruhe zum Trinken. Nichts. Marie steckte den Kopf zur Tür herein. Sie hatte den weißen Kittel an, da sie noch nicht mit der Küchenarbeit im Herrenhaus fertig war. Die kurze Pause, bis die Herrschaften gegessen hatten, wollte sie nutzen, um ihre Schwester daran zu erinnern, dass sie sich später mit der Flasche Wein im Heuschuppen trafen, um den gemeinsamen Abend zu feiern. Einige der Stallburschen und Arbeiterinnen des Hofes wollten sich zu ihnen gesellen.

      Als Marie neben Grete auf dem Bett Platz nahm, hörte Ilse auf, zu weinen. Zur gleichen Zeit stand Elfriede im Türrahmen. »Darf ich die Kleine füttern?« »Besser nicht«, antwortete Grete, die froh war, dass sie wenigstens aufgehört hatte, zu weinen. Die Flasche nahm Ilse trotzdem nicht an. »Sie will nicht trinken und wir wissen nicht, warum.« Marie ging zu ihrer Tochter und Grete bot der Kleinen zur Demonstration abermals die Flasche an. Wieder reagierte Ilse mit Schreien. »Na, ist doch klar.« Elfriedes Worte machten sowohl Grete als auch Marie sprachlos. Amüsiert sah Elfriede von einer zu anderen und wartete, ob sie auf die Lösung kommen würden. Doch angesichts ihrer weinenden Cousine konnte sie es nicht lange aushalten.

      »Gib mir deinen Kittel!», forderte sie ihre Mutter auf. Verwirrt blieb diese zuerst regungslos sitzen. Ilses Weinen brachte sie jedoch schnell wieder zurück in die Realität und so folgte sie der erneuten Aufforderung ihrer Tochter. Elfriede nahm den weißen Kittel, streifte sich ihn über und nahm neben Grete auf dem Bett Platz. Dann streckte sie die Arme aus mit der wortlosen Aufforderung an Grete, ihr das Baby in den Arm zu legen. Ratlos tat Grete wie erwartet und augenblicklich versiegten Ilses Tränen. Sie schluchzte noch einmal leise, wie sie es immer tat, wenn sie über einen längeren Zeitraum geweint hatte. Sobald Elfriede das Fläschchen in die Nähe des Mundes brachte, nahm die Kleine begierig den Nuckel auf und saugte kräftig an der Flasche. Das war des Rätsels Lösung: Die Schwestern im Waisenhaus trugen immer weiße Kittel und daran war Ilse gewöhnt. Nach der Aufregung des ganzen Tages und der spürbaren Unruhe ihrer Mutter brauchte die Kleine zumindest dieses Ritual. Zufrieden saß Elfriede mit der Kleinen auf dem Bett und genoss es, dass sie es war, die den Grund für Ilses Weinen herausgefunden hatte und bei der das Baby sich nun geborgen fühlte.

      Grete war sehr dankbar für diese überraschende Wendung. Sie hätte nicht in Ruhe zurück nach Posen fahren können, wenn Ilse weiterhin die Flasche verweigerte. Nachdem die Kleine satt und frisch gewickelt war, schlief sie auf der Stelle ein. Inzwischen hatte auch Marie ihre Arbeit beendet. Sie goß ihren Eltern einen Schluck des Weins in die einfachen Wassergläser und stellte sie auf den Tisch draußen neben der Haustür. Die restlichen Gläser nahm sie mit in die Scheune. Johann, den Grete noch aus ihrer Kindheit hier auf dem Hof kannte, und Hans hatten bereits eine grüne Decke auf den Heuballen ausgebreitet und warteten auf die jungen Frauen.

      Kaum hatten sie sich begrüßt und mit einem Schluck Wein angestoßen, wurde erneut die Scheunentür geöffnet. Im Lichtschein konnte Grete nur den Schatten einer jungen Frau erahnen, aber ihr untrügliches Bauchgefühl wusste sofort, wer dort in der Tür stand. Mit einem Freudenschrei stürzte sie auf ihre Zwillingsschwester zu und schloss Ida unter Tränen in die Arme. So lange hatten die beiden sich nicht gesehen. Marie hätte ihr an diesem Abend keine größere Freude machen können. Die Zwillinge waren wie Seelenverwandte und stets irgendwie in Kontakt, doch in diesen Zeiten wurde es schwerer und schwerer. Sich zeitgleich bei der Familie auf dem Hof zu treffen war nahezu unmöglich. Grete fühlte sich wie im siebten Himmel. Sie war wieder komplett.

      Ihre Eltern saßen auf der Bank neben der Haustür und hörten ihre Mädchen lachen. Musik erklang aus der Scheune und beide freuten sich über den unbeschwerten Abend. Lange saßen sie draußen und lauschten den fröhlichen Liedern der jungen Leute. Schade, dass es nicht immer so sein konnte.

      Eine Weile schaffte ihre Mutter es, die Kinderschar so ruhig zu halten, dass Ida und Grete weiter schlafen konnten, nachdem ihr Vater schon in den Stallungen und Marie bei ihrer Arbeit im Gutshaus war. Doch das Gekicher der Kinder und ihre Neckereien sorgten bald dafür, dass Grete den Versuch aufgab, sich weiterhin schlafend zu stellen. Mit einem Überraschungsangriff schnappte sie sich Maries Sohn, als der sich wiederholt an ihren Haaren zu schaffen machte, um sich dann schnell zu verstecken. Diesmal hatte sie ihn erwischt, was ihm einen erschrockenen Schrei entlockte. Bald darauf waren alle Kinder mit in ihrem Bett und tobten mit ihren beiden Tanten. Sie machten sich einen Spaß daraus, dass die Kinder sie ebenfalls nicht unterscheiden konnten und ließen sie bis zuletzt im Dunkeln tappen.

      Viel zu schnell rann die kostbare Zeit durch ihre Finger. Obwohl Sonntag war, mussten viele Arbeiten trotzdem erledigt werden. Wenn sie nicht gerade ihrer Mutter zur Hand gingen, kuschelten sie mit Ilse. Grete warf das fröhlich lachende Kind in die Luft, um es schließlich wieder aufzufangen und mit Küssen zu bedecken. Kitzelte sie, um sie zum Lachen zu bringen. Zog den weißen Kittel an und fütterte ihre Tochter. Legte sich auf das Bett und ihren Liebling auf ihren Bauch. Es sollten für lange Zeit die letzten, unbeschwerten Stunden mit ihrem Baby sein. Das wusste sie.

      Den Mittagsschlaf nutzte sie, um mit Ida einen langen Spaziergang zu machen. Ida hakte sich bei ihrer 9 Minuten älteren Schwester unter und erzählte ihr, wie gerne sie sich öfter mit ihr treffen würde. »Ich vermisse dich so sehr«, gestand Ida ihr mit zerbrechlicher Stimme. Grete hielt ihren Arm noch fester. »Mir geht es genauso. Aber irgendwann werden wir wieder näher zusammen sein. Spätestens wenn der Krieg vorbei ist.«

      Nachdem sie eine Weile schweigend weitergegangen waren, blieb Ida stehen und sah ihr in die Augen. »Ich habe Angst. Alle erzählen immer vom baldigen, endgültigen Sieg über die Russen, aber hinter vorgehaltener Hand hört man so viele Kommentare, die mir eine solche Angst einjagen. Denkst du wirklich, dass der Krieg bald vorbei ist?« Wenn Grete ehrlich zu sich selbst war, hatte auch ihre Hoffnung einige beträchtliche Kratzer erlitten. Aber sie musste Ida Mut machen. »Ludwig schreibt auch von wichtigen Siegen an der Front und hofft, bald zurückkommen zu können. Aber egal, was kommt, wir werden es zusammen durchstehen. Glaub mir!«

      Sie konnte nicht einschätzen, ob Ida ihren Worten tatsächlich glaubte, doch sie sah ihrer Schwester fest in die Augen und lächelte ihr aufmunternd zu. »Wir werden uns jede Woche schreiben und auf dem Laufenden halten. Und irgendwann werden wir wieder zusammen sein. Alle zusammen. Versprochen.«

      Auch wenn es beiden schwer fiel, sich schließlich auf den Weg zum letzten Zug zu machen, verließ Grete den Hof mit einem guten Gefühl. Es war ein wunderbares Zuhause für ihre Tochter und es war die richtige Entscheidung. Nachdem sie die Fahrkarte gekauft hatte, gab sie ihrem Vater den Rest ihres Geldes. Sie selbst brauchte gar nichts, wenn sie wieder in Posen war. Sie kam mit dem zurecht, was ihr in Jakobsens Haus geboten wurde. Und sie würde jeden Pfennig, den sie entbehren konnte, beiseitelegen. »Wenn ihr etwas braucht, schreib mir bitte. Dann schicke ich euch etwas Geld.« Sie ahnte, dass ihr Vater viel zu stolz wäre, ihr Geld anzunehmen. Vielleicht würde sie hin und wieder etwas Geld an Marie schicken. Sie konnte es dann ihrer Mutter geben. Aber zuerst einmal musste sie sich etwas einfallen lassen, wie sie nebenbei zusätzliches Geld verdienen konnte. Sie hatte da schon die ein oder andere Idee.

      Die Verabschiedung von ihrem Vater und auf halber Strecke von Ida fiel nicht minder traurig aus, als die Verabschiedung von ihrer Tochter. Grete hatte bewusst die Abfahrzeit so spät gewählt, dass sie bei ihrer Ankunft möglichst niemandem mehr begegnen würde. Sie hoffte, dass Jakobsen bereits schlief, denn ihr lag nichts an irgendwelchen Erzählungen ihres Wochenendes. Oder daran, dass er die Tränen in ihren Augen sah. Sie wollte nicht, dass er in ihre Seele sah. Das machte sie zu verletzlich. Sie wollte nicht verletzbar sein, sie wollte stark sein. Und das war sie.

      Ihr Vater fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, dass seine Tochter mitten in der Nacht den weiten Weg vom Bahnhof bis zum Laden allein zu Fuß gehen musste. Doch es machte ihr nichts aus. Als sie Zuhause ankam, brannte noch