Er seufzte, dann fügte er hinzu: „Vermutlich hast du recht, aber duschen gehe ich trotzdem, ich fühl' mich so siffig.“ Er umarmte sie kurz und gab ihr pflichtschuldig einen Kuss auf den Scheitel, bevor er sich umdrehte, ins Bad schlurfte und die Tür hinter sich schloss. Sie hingegen tapste im nun wieder dunklen Raum zurück ins Bett, vorsichtig darauf bedacht, sich an der Ecke ihres Bettes nicht wieder den Fuß anzustoßen, wie es ihr schon so häufig im Dunkeln passiert war. Wenn sie wieder mit einem gebrochenen kleinen Zeh zum Arzt kam, würde ihr dieser wahrscheinlich einen Sehtest aufbrummen. Oder einen Idiotentest. Kurz schoss ihr durch den Kopf, dass ein anderer Mann sie vor einigen Stunden ebenfalls dorthin geküsst hatte. Ihr Scheitel schien Männer anzuziehen, in Gedanken versunken strich sie darüber, doch er fühlte sich an wie immer.
Sie kuschelte sich tief in die warme Decke und schloss die Augen, um noch ein wenig zu schlafen.
Als sie erwachte, war es im Raum durch die Außenjalousien noch immer stockdunkel. Sie knipste die kleine Lampe der Konsole an und schaute verschlafen auf den Wecker, 12 Uhr mittags war durch.
Mühsam schälte sie sich aus dem Bett und betätigte die Fernbedienung der Jalousien, die langsam hochgingen. Draußen war es neblig, typisches Novemberwetter halt. Im Haus war es still.
Auch ihr Magen revoltierte, dabei hatte sie nur ein wenig Sekt getrunken. Doch vor lauter Aufregung um ihre unverhoffte Küchenbekanntschaft hatte sie das Essen glatt vergessen, woraus sich nun ihr Unwohlsein begründete. Doch ihr kleiner Süßigkeitenvorrat in der Sockenschublade ihres Kleiderschrankes ließ sie an diesem Morgen nicht im Stich: Nach dem Verzehr eines Schokoriegels fühlte sie sich gleich besser.
Sie betrat das Badezimmer. Die Fußbodenheizung, zu der ihr Vater ihnen geraten hatte, war ihr Geld wirklich wert, die Mosaikfliesen waren angenehm warm. Als sie in den Spiegel schaute, sah sie schwarze Balken aus Mascara und Eyeliner unter ihren Augen, die kläglichen Reste des Makeups wischte sie mit einem Wattebausch ab. Dann kämmte sie mühsam ihr störrisches brünettes Haar durch. Sie hasste es, wenn ihr die morgendliche Pflege im Bad so schwer fiel, weil sie abends nicht genug Disziplin zum Abschminken und Kämmen hatte aufbringen können. Nur zum Zähneputzen reichte es immer irgendwie, doch den Rest vernachlässigte sie aus blanker Faulheit gerne mal, vor allem nach durchgefeierten Nächten.
Sie entschied sich spontan zu einem Wannenbad, obwohl sie den großen Whirlpool noch immer als Umweltsünde par excellence betrachtete. Heute brauchte sie das prickelnde warme Wasser, um sich von den Nachwehen der schlechten Nacht zu erholen. Rauschend floss das Wasser ein, als sie den Hahn aufdrehte. Sie band ihre Haare hoch und zog ihren plüschigen Schlafanzug aus. Das Teil war ein Geschenk von Mausi gewesen, entsprechend hässlich fand Kirsten es, doch in kalten Nächten schaffte es dieses Püschelding wie nichts anderes auf der Welt, seine irgendwie immer durchgefrorene Trägerin zu wärmen.
Dann sank sie in die warmen Fluten und atmete tief ein und aus.
Ein leises Klopfen an der Tür weckte sie aus ihrer Entspannung. Florian fragte leise: „Darf ich reinkommen?“
„Ja“, gab sie mit einem Seufzen zurück. Auf ihn hatte sie jetzt wirklich keine Lust. Wahrscheinlich würde er sie nun mit Vorwürfen zum gestrigen Abend konfrontieren und ihr damit wahnsinnig auf die Nerven gehen. Der abtrocknende Referendar in der Küche war für ihn ein gefundenes Fressen.
Er kam herein, trug den Jogginganzug, den sie an ihm überhaupt nicht mochte, weil sie dieses Rot einfach zu aggressiv fand, aber auch der war ein Geschenk seiner Mutter und er ließ nichts auf ihn kommen. Im Gegensatz zu ihren Befürchtungen machte er einen entspannten Eindruck.
„Ich hab dich schlafen lassen.“
„Hmhm.“
„Wann warst du im Bett?“
„Gegen drei.“
„Ich hab die Küche schon aufgeräumt.“ WAS??? Achtung, Achtung, Halluzinationen!!!
„Oh, schön.“
Er kam zur Wanne herüber und setzte sich auf den schmalen Rand. Langsam begann er damit, zärtlich ihren Nacken mit den Fingerspitzen zu streicheln.
„Danke, dass du gestern alles so toll gemanaged hast“, sagte er. WAS IST DAS DENN??? Hatte er zum Frühstück einen Kaffee der Marke Prinz Perfekt?
„Kein Ding“, antwortete sie knapp.
Er küsste sie wieder auf den Scheitel und fragte:
„Hättest du Lust auf ein wenig Sex mit einem Neu-Einundvierziger?“
„Eben nicht, ich bin noch so fertig“, murmelte sie. Sex mit ihm war das Letzte, woran sie jetzt dachte. Gegen das Bad im Whirlpool konnte ein laues Stelldichein nicht anstinken.
„Na, dann kann man nichts machen“, stellte er ein bisschen resigniert fest und stand wieder auf. Stöhnend reckte er sich.
„Wo gehst du hin?“, fragte sie.
„Ich werde joggen gehen“, antwortete er entschlossen.
„Du willst joggen gehen?“, fragte sie perplex.
„Jawohl, joggen gehen, du hast richtig gehört“, konterte er stolz. „Ich muss mal wieder in die Gänge kommen, ich werde langsam alt und träge.“
Er ging zur Tür. Die Müdigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben, doch auch eine Entschlossenheit, die Kirsten beeindruckte. Der Mann meinte es ernst, er würde draußen Sport treiben, während sie hier ihren nicht wirklich vorhandenen Kater auskurierte.
„Dann viel Spaß beim Joggen!“, rief sie ihm hinterher, doch er hatte die Tür schon hinter sich zugezogen.
Nach dem Baden putzte sie sich die Zähne länger als sonst mit der surrenden elektrischen Zahnbürste. So lange, bis ihr Zahnfleisch an einem Backenzahn wund zu werden begann. Sie spuckte den Schaum aus und spülte, dann ging sie fest in ihr Handtuch gewickelt ins Schlafzimmer und suchte sich aus der Schublade der Kommode einen Slip und einen BH aus. Da er sein Interesse an Sex bekundet hatte, nahm sie einen String mit passendem Push-up, an den bequemen Sachen in strahlendem Weiß griff sie zielstrebig vorbei. Sie hatte früher nie Dessous getragen, doch seit es zwischen ihnen nicht mehr so lief, kaufte sie hin und wieder etwas Schönes. Heute entschied sie sich für sündiges Rot. Dazu ihre groben Wollsocken anzuziehen, passte zwar nicht so richtig, doch beim Frieren hörte der Sexappeal auf, außerdem machte er es sowieso immer im Dunkeln, da würde sie die Socken unbemerkt ausziehen können. Dann nahm sie die Jeans von gestern zur Hand und zog einen dicken Wollpullover drüber. Zurück im Bad trug sie ein leichtes Makeup auf, kämmte das Haar noch einmal sorgfältig durch und knetete sich ein wenig Fluid in die Spitzen. Der abschließende Blick in den Spiegel erfüllte sie dennoch nur annähernd mit Zufriedenheit.
„Mädchen, siehst du fertig aus“, sagte sie zu sich selbst und lächelte sich flüchtig im Spiegel zu.
Auf Socken ging sie die Treppe herunter, die mit flauschiger beigefarbener Auslegeware bestückt war. Diesen Teppich hatte sie aller Unkenrufe zum Trotz ausgesucht, denn alle anderen (ihr Mann, ihr Vater, ihre Schwiegereltern) kritisierten seine offensichtlichen Defizite in Sachen Alltagstauglichkeit. Sie fand ihn nach wie vor sehr hübsch und er passte prima zu den dunklen Möbeln, die sie in diversen Antiquitätengeschäften zusammengekauft hatte. Schön war die Welt mit Vaters Geld, naja, eigentlich mit Mutters Geld, doch die war seit ihrem jähen Krebstod vor fünf Jahren nicht mehr am Leben, und Kirsten hatte viel Geld von ihr geerbt.
Sie betrat die Küche und hatte augenblicklich ein Déjà-vu. Die Aufregung des letzten Abends traf sie wie ein Blitz. Allerdings holte sie der Geruch von Kaffee schnell zurück auf den Boden der Tatsachen. Sie nahm sich seufzend einen Becher und goss sich die dampfende Brühe ein, die Florian immer fabrizierte. Dieser Kaffee konnte ohne Frage Tote erwecken. Sie nahm einen heißen Schluck und fühlte, wie ihre Lebensgeister immer wacher wurden.
Mit dem Kaffee in der Hand schlenderte sie in den großzügigen Ess- und Wohnbereich, der schon wieder bemerkenswert ordentlich war.