Fischer ließ sich den Fuß zeigen. Schon der erste Blick zeigte ihm, dass er hier nichts mehr ausrichten konnte. Fast der ganze Fuß war bei dem Sturz zerschmettert worden, und die Brüche waren samt und sonders schief zusammengewachsen.
"Wieso kommt er erst jetzt? Und wieso klettert er in seinem Alter noch auf Palmen herum?" fragte er den Dolmetscher.
Der gab die Fragen an den Alten weiter, der wieder zu einer längeren Rede ansetzte. Als er damit fertig war, erfuhr Fischer den wahren Sachverhalt: Der Alte hatte gar nicht sofort kommen können. - Als der Unfall passierte, war er noch ein Kind gewesen.
Fischer seufzte. Da erwartete dieser arme Alte doch wirklich, dass der weiße Wunderdoktor einen mindestens 50 Jahre alten, schlecht verheilten Knochenbruch repariert. Aber die Weißen waren ja selbst schuld, wenn sie überfordert wurden. Jahrzehnte-, ja jahrhundertelang hatten sie sich als Alleskönner und Wundertäter aufgespielt. Und so was war nun die Quittung dafür.
"Hier, das ist gute Medizin!" Aus der Schreibtischschublade hatte er ein Röhrchen mit Zuckerpillen geholt und reichte es dem Alten. "Jede Woche eine Pille - und den Fuß schonen!" ließ er übersetzen. "Aber er soll nicht zu viel erwarten, die Sache braucht Zeit."
Erfreut nahm der Alte die Medizin entgegen und humpelte Danksagungen murmelnd hinaus.
"Glück gehabt, alter Junge. Für einen Feldversuch mit neuen Präparaten bist du einfach zu alt", stellte Fischer bei sich fest und ließ den nächsten Patienten hereinholen.
Zwei Geschwüre, zwei Durchfälle, drei Bilharziosen und einige andere Krankheiten später: Fischer fühlte sich total ausgelaugt. Er war kein Arzt aus Leidenschaft. Die Routine der Behandlungen, die Krankheitsgeschichten, die ewig gleichen Begrüßungsformeln machten ihn krank.
Aus Prestigegründen hatten seine Eltern darauf bestanden, dass er Medizin studierte. Eigentlich hätte er viel lieber eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen. Aber um des Familienfriedens willen hatte er schließlich eingewilligt.
Schon bald hatte er allerdings festgestellt, dass er dem Arztberuf wirklich nicht viele positive Seiten abgewinnen konnte. Seine Schwierigkeiten mit den hierarchischen Strukturen des Ärztestandes hatten ihm schon in den ersten Semestern Unmengen von Ärger eingetragen. Dass er trotzdem seine Scheine zusammenbekam und auch ganz gut abschnitt, grenzte an ein Wunder. Immerhin ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, sich unter der Professorenschaft Feinde zu machen.
Mitten in diesem Dilemma kam ihm seine Idee, den Fachbereich "Tropenmedizin" zu wählen, wie eine Erlösung vor. Der 22jährige Medizinstudent Martin Fischer träumte davon, eines Tages in einem hübschen kleinen Krankenhaus, in einem interessanten Land - mit netten farbigen Kollegen - nette farbige Patienten zu behandeln.
Heute, 37jährig - nach sechsjährigem, fast ununterbrochenem Einsatz in verschiedenen Ländern - wusste er, dass Entwicklungsarbeit immer bedeutete, bis über beide Ellbogen im Dreck zu wühlen. Aber das war noch nicht das Schlimmste.
Viel mehr als Hitze, Staub und Langeweile machte es ihm zu schaffen, dass er ständig gezwungen wurde, seine Patienten zu Versuchszwecken zu missbrauchen. Fast alle europäischen Pharmakonzerne unterhielten im Rahmen der Entwicklungshilfe Versuchsstationen in der Dritten Welt. Hier wurden die Medikamente getestet, die in Europa nicht an Menschen erprobt werden durften.
Wie entsetzt war er gewesen, als er bei seinem ersten Einsatz in Westafrika feststellte, dass täglich dutzende von vollständig gesunden Bergarbeitern durch die Sprechzimmer geschleust wurden, an die er neu entwickelte Beta-Blocker zu verteilen hatte. Da Beta-Blocker auch Depressionen auslösen können, hatte man dem Präparat eine gute Dosis Stimmungsaufheller beigemengt. Jeder Mann musste Urin- und Stuhlproben abgeben, Blut wurde abgenommen und Reaktionstests wurden durchgeführt. Anschließend musste jeder Arbeiter seine Pille für die Nacht unter Aufsicht einnehmen und durfte dann nach Hause gehen. Die Ehefrauen maulten zwar etwas, weil ihre Kerle nachts zu absolut nichts mehr zu gebrauchen waren, aber das war nicht weiter schlimm. Viel bedenklicher stimmte es, dass die Jungs auch am nächsten Morgen noch völlig high gewesen waren. Fröhlich lächelnd hatten sie bei der Arbeit sich selbst oder anderen - ganz aus Versehen - ein paar Finger oder sonstige Körperteile abgehackt. Eilig war nach Deutschland telegrafiert worden, und man hatte den Versuch sofort abgebrochen. Das neu entwickelte Präparat, das drei Wochen später angeliefert wurde, wirkte schon erheblich milder; musste aber noch zweimal verbessert werden, bevor es in Deutschland in den Handel kam.
Unzählige andere Tests folgten: Appetitzügler, Cortisoncremes, Kreislaufmittel, Rheumasalben und vieles andere wurde in stetem Wechsel auf Wirkung und Verträglichkeit getestet. Die Menschen, an denen diese Versuche vorgenommen wurden, hatten sich alle freiwillig gemeldet. Andererseits hätte die Yekepa Mining Company jeden gnadenlos gefeuert, der sich nicht zur Verfügung gestellt hätte. Schließlich erhielt sie von dem Pharmakonzern ein hohes Kopfgeld für jede Versuchsperson.
Brauner, Fischers damaliger Vorgesetzter, hatte in einem abendlichen, privaten Gespräch dann auch noch die letzten Illusionen zerstört, die Fischer bis dahin noch hätte haben können. Fischer, frisch aus Deutschland importiert, hatte schwere Skrupel wegen des menschenverachtenden Vorgehens seiner Firma. Beiläufig hatte er durchblicken lassen, dass er beabsichtige, einen Bericht auszuarbeiten und die Presse über die skandalösen Zustände zu informieren.
Brauner hatte ihm das allerdings ganz schnell ausgeredet. Er hatte Fischer vor Augen geführt, was passieren würde, wenn diese Klinik geschlossen werden müßte. Die einheimische Bevölkerung würde dann zwar nicht mehr als Versuchsmaterial missbraucht, aber sie würde auch sonst ohne jede medizinische Versorgung sein.
Fischer hatte das einsehen müssen, aber es hatte ihm absolut nicht gefallen. Er war zu keiner Antwort fähig gewesen. Er hatte sich knapp verabschiedet und war in sein Zimmer gegangen In dieser Nacht hatte der junge Doktor Fischer zum letzten Mal in seinem Leben geweint. Es waren Tränen der Hilflosigkeit, der Enttäuschung und der Wut gewesen.
14.11.1972 - 13:00 - Kutambati, Kenia
"Frang-fu! Frang-fu!" Der Postboy versuchte die deutsche Aussprache nachzuahmen, die er von Wallmann gehört hatte. Ohne Rücksicht auf seine Mittagspause kam er, begleitet von einer Horde Kinder, laut rufend in einer riesigen roten Staubwolke über den glühend heißen Hof gerannt. Das Telegramm in der hocherhobenen rechten Hand, raste er direkt auf das offene Fenster des Gemeinschaftszimmers zu, in dem die Ärzte gerade beim Essen saßen.
"Jambo Bwana Doktor Wallmann!" grüsste er außer Atem. "Telegramm from Frang-fu!"
"Jambo Christoph, thanks a lot!" Wallmann stand auf und nahm dem Jungen das Papier ab. Umständlich kramte er in der Hosentasche und reichte ihm einen Shilling. Staunend verfolgte die Kindermeute, wie Christoph seinen Lohn in sein Taschentuch knotete und am Gürtel befestigte.
"Na, was wollen die Frankfurter schon wieder?" Wolters war ungeduldig.
Wallmann überflog das Telegramm. "Seidel kommt."
"Oh nein!" Wolters stöhnte auf. "Ausgerechnet dieser Kotzbrocken."
"Nun beruhige dich mal, Felix. Diesmal brauchst du ihn wohl nicht zu sehen. Ich treffe mich mit ihm im "River Thames" in Mombasa."
"Wann denn?"
"Schon heute Abend. Das Scheiß-Telegramm war mal wieder drei Tage lang unterwegs. Ich versuche Pavarone zu erreichen." Wallmann steuerte das Funkgerät an.
"He Gerd, warte doch mal!" fiel Fischer ein. "Du fliegst heute noch nach Mombasa?"
"Ja!"
"Wann kommst du zurück?"
"Wahrscheinlich morgen früh!"
"Nimmst du mich mit?"
"Na hör mal!"
"Komm