Zerbrechliche Ichbrücken. Hilde Sturm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hilde Sturm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844259438
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„Zum Beispiel frei und offen reden über alles, was Ihnen wichtig ist. Und über alles, was Ihnen in den Sinn kommt und was Sie zu Hause, unterwegs oder auf Arbeit beschäftigt. Es kommt darauf an, dass Sie offen und ohne Rückhalt reden. Nichts verschweigen. Auch wenn es Ihnen peinlich ist oder nebensächlich vorkommt.“

       „Hm ....“

       „Ich denke, Sie werden zurechtkommen. Mit dem sozialen Training fangen Sie sofort an. So gut Sie können, nehmen Sie an allen Gruppentherapien teil. Es fällt Ihnen noch ein wenig schwer, nicht wahr? Aber das geht am Anfang der Behandlung allen so.“

       „ .... “

       „Für heute ist es genug. Sie werden das alles erst verarbeiten müssen. Dann sehen wir uns am Montag nach der Visite wieder. Auf Wiedersehen.“

       Händedruck. Und draußen bin ich.... Konnte nicht mal widersprechen.... Bestimmen immer alles, die Ärzte.... Auf die Tagesstation wollte ich nur, weil man nachmittags nach Hause kann.... Dass die am Wochenende geschlossen haben.... blöd!

      2. Am Hades lungern

      Mo 1.3. 93 Gespräch mit Dr. Hanna Leider

       Hannas Arztzimmer geht nach Norden, Kammer nennt sie den knappen Raum oder auch Stall. Neben einem schmalen Schrank, einem Holzregal voller Bücher und einem winzigen Tisch, der mit Stößen von Krankenblättern, Zeitschriften und unregelmäßig gestapelten Arbeitsblättern bedeckt ist, bleibt kaum Platz für Schreibtisch, Sessel und zwei Besucherstühle. Die grün-gelb züngelnde Maranthe auf dem Fensterbrett und eine verblichene Bleistiftzeichnung an der Wand über dem Schreibtisch mildern die Krankenhausatmosphäre. Hanna sitzt am Schreibtisch, die Unterlagen der neuen Patientin Simone Maurer in der Hand. Sie konzentriert sich auf ihren ersten Eindruck von der Patientin. Äußerlich unauffällig, schüchtern, verängstigt wie ein Kind in fremder Umgebung. Allerdings kann sie auch ein werbendes Lächeln aufsetzen. Hat schon einige Therapien hinter sich. Vermutlich eine harte Nuss. Die Diagnose der einweisenden Kollegin scheint fundiert: Frühe Störung, Borderline-Syndrom. Um sicher zu sein, muss ich noch mindestens drei Eigenschaften erfahren.

       Simone Maurer ist inzwischen hereingekommen und hat im Besucherstuhl rechts gegenüber von Hanna Platz genommen.

       „Ihre behandelnde Ärztin, Frau Dr. Hille, hat Sie wegen Medikamentenabhängigkeit und wegen Ihrer immer wieder geäußerten Selbstmordgedanken stationär eingewiesen. Weshalb wollten Sie einer vollstationären Behandlung nicht zustimmen?“

       „Angst.“

       „Wovor Angst?“

       „Dass die mich zwingen... “

       „Besser wäre schon die vollstationäre Behandlung in einer Klinik für Psychotherapie. Für eine Korrektur Ihrer Symptome brauchten Sie Schutz und Betreuung rund um die Uhr. (Pause) Ich will versuchen, teilstationär mit Ihnen zu arbeiten. Wenn in absehbarer Zeit ein Erfolg ausgeblieben ist, muss ich Sie an eine Psychotherapieklinik mit einem Spezialprogramm überweisen. Sind Sie damit einverstanden?“

       „Nein.“

       „Was hätten wir dann für eine Alternative?“

       „Weiß nicht.“

       „Die habe ich leider auch nicht.“

       „Kommt dann Entlassung?“

       „Es sieht so aus.“

       „....“ Pause.

       „Sind Sie böse?“

       „Bin ich böse?“

       „.... “

       „Wann sind Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben auf die Idee gekommen, sich das Leben zu nehmen?“

       „Ungefähr mit 16 .... da merkte ich, dass ich nicht mehr zurecht kam... da hatte ich oft keine Hoffnung mehr.... Da war alles grau und mies. Und mit 17 .... da habe ich den Gashahn in der Küche aufgedreht.... Schon lange habe ich nichts so sehr gehasst wie meine Eltern.... Mich wollte ich auch gleich umbringen.... Meine Mutter hat das Gas entdeckt.... Mein Vater war um die Zeit schwer betrunken.... Er glaubt bis heute, dass er es war.“

       „Das ist alles sehr traurig. Aber es klingt auch ein bisschen so, als würden Sie sich freuen, Ihren Vater ausgetrickst zu haben.“

       Ein Grinsen huscht über Simones Gesicht: „Vielleicht.“

       „Ein versuchter erweiterter Selbstmord. Ungewöhnlich in diesem Alter. Was hat sich in Ihrem Leben damals so Schwerwiegendes zugetragen, dass Sie außer sich gewesen waren und zu einem so extremen Mittel greifen mussten?“

       „Hass.“

       „Hass ist die Folge von etwas. Hass auf wen?“

       „Meine Eltern.“

       „Was hatten Sie denn Ihren Eltern damals vorzuwerfen?”

       „Mein Vater hat getrunken und meine Mutter und mich oft geschlagen, wenn er betrunken nach Hause kam.... Meine Mutter hat mich immer nur bestraft.... , auch wenn ich keine Schuld hatte.... oder wenn ich Hilfe brauchte.“

       „Haben Sie noch öfter versucht, sich das Leben zu nehmen?“

       „Ja .... Ich hatte mal einen Wellensittich. Er war wie ein vertrauter Freund. Dem habe ich alles erzählen können. Tiere sind nicht so gemein wie Menschen. Als er gestorben war.... ganz plötzlich .... ich fand ihn frühmorgens tot im Käfig liegen.... Da habe ich auch nicht mehr leben wollen. Da habe ich alle Tabletten geschluckt, die ich finden konnte. Meine Mutter hat aber was gemerkt und eine Ärztin geholt.... Das gab ein langes, echt langes Gespräch alleine mit der Ärztin.... Da habe ich mich leichter reden können. Vielleicht hätte ich alles sagen sollen. Aber .... danach ging es wieder.“

       „War es das erste Mal in Ihrem Leben, dass Sie eine echte und intensive Zuwendung erfahren haben?“

       „Ich glaube, ja.... Aber irgendwann, da war wieder alles aus.... Da bin ich von einer Eisenbahnbrücke gesprungen.... auf einen fahrenden Zug.... Der war mit Getreide beladen und offen.... “ und schief grinsend, ironisch singend fährt sie fort: „Da bin ich ganz .... weich gefallen.... Habe mir nur die Beine verstaucht.“

       „Wie Sie das so leichthin sagen. Als wäre es ein Spiel mit dem Tod gewesen.“

       „Ich weiß nicht.“

       „Wie war es in den Jahren danach bis jetzt?“

       „Später hatte ich eine Ärztin, zu der ich jahrelang gegangen bin, Frau Dr. Bornemann. Sie war für mich wie eine Mutter. Solange sie für mich da war, ging es mir gut. Ich war auch privat bei ihr zu Hause. Ich glaube, für sie war ich wie eine Tochter. Vor 2 Jahren ist sie fortgezogen. Ein halbes Jahr habe ich durchgehalten. Dann war alles wieder so durcheinander wie früher.“

       „Sie brauchen eine Ersatzmutter wie ein Kind?“

       „Mmh .... ja .... Ich glaube.... “

       „Und wie war es in den letzten Monaten?“

       „Wenn ich allein bin, treibt mich die Angst, besonders nachts. Ich steige ins Auto und fahre mit 150 Sachen die Autobahn Richtung Rostock.... Oder ich klettere auf einen hohen Turm und stelle mir vor hinunter zu springen.... Aber ich bin zu feige.“

       „Seitdem Sie tagsüber bei uns sind, lenkt Sie das ab?“

       „Am Tage ja .... aber .... zum Beispiel gestern Abend war die Angst so groß, dass ich meine

       Tochter allein gelassen habe.... Bin bis heute Morgen um vier durch die Gegend gefahren. Habe ne ganze Tankfüllung leergefahren. An der Tankstelle in der Nähe von Frankfurt/O muss ich mit einem Messer in der Hand bezahlt haben. Bin weggefahren und bemerkte das Messer erst, als ich 130 Stundenkilometer draufhatte.... Das war die Angst, die ich vor allem habe, auch vor Frauen.... Beim Tanken habe ich gedacht.... Den Hahn laufen lassen, immer laufen .... alles daneben .... sinkt ein in die Erde .... dann gäbe es einen tollen Knall, und alles ist weg, ich auch .... Keine Verantwortung mehr, keine Angst .... das Dunkel erobern, das zu mir gehört.... Jetzt müssen Sie zu mir sagen, dass ich an mein Kind denken soll, dass es mich braucht.... Amen .... Schon hundertmal gehört!“