Wie ein Dornenbusch. Wilfried Schnitzler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfried Schnitzler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847659693
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Auswanderer und Reisende nach Nord-Amerika. Viermal im Monat verließen regelmäßig Express- und Postdampfer den Seehafen von Le Havre nach New York. Cornelius entschied sich für das Dampfschiff ‚Lenau’, ein rüstiger, schon in die Jahre gekommener Zweimaster mit einem Schornstein. Der Agent versprach Beförderung zu billigstem Preis. Zudem würde man alle Reiseangelegenheiten bei der Buchung mit Umsicht und Sorgfalt zur Zufriedenheit des Reisenden erledigen. Das Schiff konnte 52 Gäste in der Ersten Klasse, 76 Passagiere in der Zweiten und 620 Insassen im Zwischendeck akkommodieren und in 9 bis 11 Tagen, je nach Wetter, den Atlantik überqueren. Der Schiffseigner garantierte eine angenehme Reise, selbst unter Deck, wo in den zwei Meter hohen, mit Frischluftventilatoren versorgten Unterkünften, Junggesellen, getrennt von Familien und unverheirateten Frauen, einquartiert würden. Vieh und anderes Getier hatten, separiert von den Schlafstellen, ihre Quartiere. Speisen konnten in einer gemeinsamen Küche zubereitet und in den Kojen eingenommen werden. Der Preis der Passage umfasste für Reisende im Zwischendeck eine Bettstelle und nötigenfalls Medikamente aus der Apotheke, Platz in der Küche zum Kochen, frisches Trinkwasser, Holz und elektrisches Licht. Der Vertrag schloss sogar bei der Ankunft in Amerika das sogenannte Kopfgeld ein. Damit konnte Cornelius allerdings wenig anfangen, fühlte sich als Transitreisender nach Panama auch nicht angesprochen. Der Reiseprospektus bot sogar einmal am Tag in der Schiffskantine eine warme Mahlzeit zu günstigem Preis an. Um Geld zu sparen, erstellte Cornelius eine Liste mit Proviant für seine Atlantik-Überfahrt. Er wollte sich Kartoffeln mitnehmen, Äpfel, kräftig braun gebackenes Schwarzbrot und eine große Dose Zwieback als Ersatz, wenn das Brot alle war, eine Schwarte geräucherten Bauchspeck und Schweineschmalz in einem Wachstuchsäckchen. Salzheringe hielt er für überflüssig, da diese sowieso ziemlich unten auf seinem Speiseplan standen und bestimmt im Bordproviant sein würden. Auch Käse glaubte er besser wegen des Geruchs nicht einzupacken. Natürlich fehlte nicht das Salz für die Kartoffeln und Honig als Brotaufstrich sowie als Zuckerersatz im Tee, den er selbst in der Küche aufbrühen wollte. Ein größerer Blechbecher diente als Topf und Trinkgefäß. Dieser Reiseproviant würde keine opulenten Mahlzeiten liefern, trotzdem hielt er sich für gut vorbereitet. In einen Reisesack packte er ein Essbesteck, extra ein Klappmesser und eine Schere, etwas Unterwäsche, mehrere Hemden mit einknöpfbarem Kragen und Manschetten, dazu Socken und Taschentücher. Eine Garnrolle und Nähnadel, ein respektables Stück Kernseife, Rasierzeug, Kamm und Zahnbürste sowie ein Handtuch vervollständigten seine Ausstattung. Kochsalz ersetzte für ihn schon immer die Zahnpasta. Leintuch, eine feste Decke und ein kleines Kissen rollte er mit einem Strick zusammen, der sicherlich auch anderweitig nützlich werden konnte, und band die Rolle oben auf den Sack. In einem kleinen Leinenbeutel verstaute er Schreibmaterial, eine handliche Ausgabe des Neuen Testaments mit Psalmen und einen Block Schreibpapier. Mit festem Schuhwerk, einem strapazierfähigen Anzug und wollener Weste glaubte er sich gut ausgerüstet. Er hatte keine Kopfbedeckung mitgenommen, was er auf der Überfahrt noch bedauern sollte. Er war stolz auf sein handliches Gepäck, wobei er allerdings zu bedenken hatte, dass seine Reise in New York noch nicht zu Ende war. Dort würde gerade erst einmal die Hälfte der Strecke hinter ihm liegen. Ob er sich neu mit Proviant bei seiner Ankunft eindecken konnte und wie er nach Colón an der Atlantikküste und dann über Land Panama Stadt erreichen sollte, das musste vor Ort geklärt werden.

       5 Aufbruch in eine neue Welt

      Die Fahrt nach Le Havre über Amiens war mit der Eisenbahn in wenigen Stunden geschafft. Der Fahrplan erlaubte es ihm im Hafen frühzeitig genug einzutreffen, um am gleichen Abend das Schiff zu borden. Das ersparte eine extra Übernachtung. Entlang der Straße zum Auswandererkai hatten sich die Agenturen in niederen Baracken, eine neben der anderen, eingerichtet. Das Geschäft lief gut. Viele Ausreisende erhofften sich eine bessere Zukunft in der Neuen Welt und gaben dafür ihr letztes Erspartes her oder verließen den alten Kontinent mit Schuldverschreibungen an Geldausleiher oder Verwandte. Über einem der Büroeingänge stand in großen Lettern auch der Name seines Agenten. Er trat ein, stellte sich vor und bekam gleich seine Bordkarte ausgehändigt: Dritte Klasse, Schlafkoje 179. Man deutete ihm an, dass er sich auf das Vorschiff in den Junggesellentrakt zu begeben hatte. „Das würde bei so vielen Mannsbildern heiter werden“, dachte Cornelius sarkastisch.

      Wie bei der Buchung versprochen, half man ihm durch etliche Kontrollen, aber nur bis zur Kaianlage, dort sei er sich selbst überlassen. Da warteten bereits Passagiere, um an Bord gelassen zu werden oder Verwandte standen neben den Lieben, schmerzstumm beim Abschiednehmen. Viele stiegen in Le Havre nicht zu, die meisten kamen bereits von Hamburg, dem Heimathafen der 'Lenau’. Die legte hier in Le Havre nur einen kurzen Zwischenstopp ein, um noch restliche Passagiere und Cargo vor der langen Atlantiküberquerung aufzunehmen. Noch hatten Matrosen und Stauer alle Hände voll zu tun, das Schiff mit Proviant, und Gepäck - voluminöse Kisten, Pakete und Postsäcke - fertig zu beladen. Letztendlich reiste Cornelius ja auf einem Postdampfer. Der Warenverkehr über den Atlantik vom alten Kontinent zu den aufblühenden Metropolen der Neuen Welt hatte sich lawinenhaft entwickelt. Am Heck wurde immer noch Kohle für die mächtigen Dampfkessel im untersten Deck des Schiffes gebunkert. Aus dem Schlot stiegen bereits dicke, schwarze Rauchwolken und legten sich übelriechend auf den Kai. Alles stank nach Kohleruß.

      Das Herumstehen gab Cornelius prächtig Gelegenheit, seine Umgebung zu beäugen. Um ihn herum warteten Menschen, wie es schien, bereits schön gruppiert nach der Klasseneinteilung in den Schiffskabinen. Wohlhabende Urlaubs- und Geschäftsreisende mit eleganten Koffern und Taschen standen abseits von den Leuten, die ins Massenquartier im Zwischendeck ziehen mussten. Die waren deutlich an der ärmlichen Kleidung und den schäbigen Gepäckstücken auszumachen: Rucksäcke, Leinwandbeutel, Kisten und Kanister. Die Damen der Hautevolee konkurrierten untereinander in mondänen Mänteln und übergroßen Hüten. Bei den Herren lugten weiße Schals unter dunklen, eng anliegenden Anzügen hervor; sie trugen Glaceehandschuhe und stützten sich nach der neuesten Mode auf silberbeknaufte Spazierstöcke. Selbst die Kinder waren fein herausgeputzt. „Diesen Leuten werde ich bestimmt an Bord nicht begegnen“, dachte Cornelius. Er empfand aber keinen Neid, nein, überhaupt nicht. Er schaute einfach erleichtert und mit reichlich Optimismus auf das Kommende, ohne viel darüber nachzudenken, was ihn eigentlich erwartete und auf was er sich da in Panama eingelassen hatte. Dabei war ihm natürlich klar - ohne dass er sich die finale Konsequenz in diesen Augenblicken eingestanden hätte, - dass nämlich das Ende seines eingeschlagenen Weges für ihn doch genau mit dem beginnen würde, was er so gar nicht vorhatte, nämlich in einen Priesterrock zu schlüpfen. Jetzt aber prickelte erst einmal sein ganzer Körper vor Aufregung. Die letzten Monate wollte er lieber vergessen, stattdessen sein Bewusstsein der momentanen Realität anpassen.

      Das anfängliche Läuten der Schiffsglocke ging im einsetzenden Heulen der Sirenen unter. Der Landesteg wurde freigegeben, aber eine Reihe Matrosen versperrte immer noch den Aufgang zum Schiff. Man bedeutete der kleinen Gruppe Erste-Klasse-Passagiere sich auszuweisen, sie traten vor und wurden gemächlich die Gangway hinaufbegleitet. Die Reisenden der zweiten Klasse folgten; das waren auch nicht viele. Das Gepäck dieser Herrschaften wurde ihnen beflissentlich nachgetragen, wogegen man die Habseligkeiten der Reisenden im Zwischendeck genau inspizierte. Nur was Platz in der eigenen Koje hatte, durfte dabei bleiben, die größeren Stücke waren in einem separaten Gepäckraum unterzubringen, der auf See verschlossen blieb. Entsetzen und Geschimpfe ging durch die Menge, denn die meisten hatten doch geplant, jederzeit während der Überfahrt an ihr Hab und Gut heranzukommen. Hastig versuchte ein jeder Betroffene nun irgendwie umzupacken, was in der Eile nur sehr schwer möglich war oder überhaupt nicht gelang. Warum hatte man sie darüber nicht vorher unterrichtet? Viele waren regelrecht verzweifelt. Wieder einmal pries Cornelius seine Voraussicht, denn seinen Seesack durfte er anstandslos huckepack mit an Bord nehmen.

      Alle Passagiere mussten zuerst über die Gangway an der Außenseite des Schiffes hinauf bis zum obersten Deck. Das war nicht ganz ungefährlich auf dem schmalen, wippenden, steilen Steg, besonders mit Gepäck beladen. Gleich am Ende stand Bordpersonal und reichte ohne weitere Erklärung jedem ankommenden Passagier eine Schwimmweste aus Kork. Man nahm wohl an, dass jeder wusste, was damit anzufangen war. Das Oberdeck war ganz in Teakholz gehalten, aber man durfte sich dort als Dritt-Klasse-Passagier nicht aufhalten. Überall standen Matrosen, die zwar nicht Hand anlegten und halfen, aber sehr darauf bedacht waren, dass die Passagiere auf den Oberdecks nicht belästigt oder vielleicht