Linny war nicht in der Stimmung, mit einem wildfremden Papagei, der noch dazu behauptete, ihr Taufpate zu sein, über den Tod ihrer Mutter zu sprechen. Daher wechselte sie rasch das Thema:
»Was in aller Welt ist ein Flaggelon?« erkundigte sich das Mädchen.
»Meine Güte, lernt ihr Kinder denn gar nichts Vernünftiges in der Schule?« Hunibald schüttelte verständnislos den Kopf. »Nach der Rechnung des wodanischen Kalenders ist der Flaggelon ein Zeitabschnitt. Allerdings gibt es von den wodanischen Monaten nicht zwölf, sondern dreizehn. Der Flaggelon ist ein Frühlingsmonat, etwa wie der März. Der dreizehnte Monat, Aldomerat, ist der Monat der Transparenz. Alle Hexen und Zauberer, die es geschafft haben, im scheidenden Jahr mindestens einen Schwarzmagier zu vernichten, genießen zur Belohnung ihrer Verdienste einen ganzen Monat lang das Privileg der Unsichtbarkeit.«
»Hm«, überlegte Linny mit skeptischer Miene, »mir scheint Unsichtbarkeit ein ziemlicher Unfug zu sein! Wer wäre schon froh darüber, die eigenen Hände und Füße nicht mehr sehen zu können? Ich könnte mir vorstellen, daß man sogar schwere Koordinationsstörungen bekommt, wenn man sich selbst nicht mehr sehen kann. Wahrscheinlich ist die Unsichtbarkeit eher eine Strafe als ein Privileg!«
»Wahrlich, wahrlich, junge Dame«, beschwerte sich Hunibald, »woher hast du nur diese pragmatische Einstellung? Etwas mehr Vertrauen in die Möglichkeiten der Magie täte dir gut!«
»Ich bin bislang auch ohne Magie sehr gut zurechtgekommen!« konterte Linny frech.
»Wir haben jetzt keine Zeit für solche Diskussionen, mein Kind! Es sind nur noch dreizehn Tage bis All Hallows Eve!« Linny blickte den Papagei fragend an.
»Halloween!« Hunibald zuckte bedeutungsvoll mit einer Augenbraue. »Halloweeheen! Na, klingelt’s?«
»Ja, schon«, sagte Linny gedehnt. »Das ist die Sache mit den ausgehöhlten Kürbissen. Und weiter?«
»Und weiter?!« Der Papagei verdrehte die Augen. »Hast du denn gar keine Ahnung, was es mit Halloween auf sich hat?«
»Nein, eigentlich nicht. Halloween ist ein traditionelles Fest, das bei den Amerikanern sehr beliebt ist. Aber vielleicht ist es für Tante Verula und mich ein wenig zu amerikanisch. Jedenfalls habe ich es noch nie gefeiert. Aber immerhin habe ich am darauffolgenden Tag Geburtstag. Und Tante Verula meint, daß es zu teuer wäre, an gleich zwei aufeinanderfolgenden Tagen ein Fest zu feiern. Deshalb stellt sie mich jedes Jahr vor die Wahl, ob ich meinen Geburtstag feiern oder mich an Halloween verkleiden möchte. Und bisher habe ich mich immer für meine Geburtstagsfeier entschieden. Ich mache mir nichts aus Kostümfesten!«
Linny zuckte teilnahmslos die Schultern, damit der Papagei nicht merkte, daß sie nicht ganz die Wahrheit sprach. Sie wußte, daß die finanziellen Möglichkeiten ihrer Tante sehr begrenzt waren. Nur mit Mühe konnte Tante Verula das Haus halten. Extraausgaben wie etwa ein Halloween-Kostüm für Linny waren in dem schmalen Haushaltsetat nicht vorgesehen. Da sie um die Nöte ihrer Tante wußte, hatte Linny Jahr für Jahr vorgegeben, an Halloween nicht das geringste Interesse zu haben.
»Oh je! Was habe ich mir mit dir nur aufgebürdet!« rief Hunibald aus. »Weißt du denn nicht, welche Bedeutung All Hallows Eve für die magische Gemeinde hat?! Mein liebes Kind, Halloween ist der Vorabend des ersten November, der nicht nur dein Geburtstag, sondern auch der erste Tag des Blutmonats ist. All Hallows Eve ist traditionell die Nacht der großen Einweihung! In dieser Nacht erhalten alle Taufhexen und -magier, gleich ob in ihren Familien die schwarze oder die weiße Magie gepflegt wird, den Schlüssel zu ihrer Macht. Wie sich diese Macht im Verlauf ihres weiteren Lebens entwickeln wird und was eine jede Hexe und ein jeder Zauberer daraus machen, kann nur die Zeit bringen. Es ist sogar schon vorgekommen, daß ein schwarzer Magier, der Zeit seines Lebens die dunklen Künste ausübte, an Halloween die Seiten gewechselt hat. Die Halloween-Nacht übt eine ganz besondere, ja einzigartige Magie aus. Alle guten und schlechten Energien werden in dieser Nacht freigesetzt. Sie können entweichen, sich vermischen oder zu einem anderen Magier wechseln. Alles kann geschehen. An Halloween ist alles möglich!« Während Hundibalds Vortrag hatten Linnys Augen vor aufflammendem Interesse zu leuchten begonnen.
»Ist es schon vorgekommen, daß ein weißer Magier zu den dunklen Mächten übergelaufen ist?« wollte sie wissen.
»Oh ja!« bekannte Hunibald. »Leider ist das gar nicht so selten! Die Versuchungen des Bösen lauern überall!«
»Und was hat das alles nun mit mir zu tun? Ich meine, selbst wenn es stimmt, was du sagst, und wenn meine Mutter wirklich eine Hexe war, dann muß das doch nicht notwendigerweise auch für mich gelten, oder?« Bei aller aufkommenden Begeisterung bewahrte Linny sich ihre Zweifel.
»Mein Kind, mit trockener Kehle kann ich dir heute gar nichts mehr sagen. Dabei wäre es äußerst wichtig, daß du alle Zusammenhänge möglichst genau durchschaust. Die weiße Magie braucht die Macht deiner Familie mehr denn je!« Hunibald zog ein Gesicht. Er war ganz offensichtlich immer noch beleidigt, weil Linny ihm statt Wodka Baldrian in den Nachttrunk gemischt hatte.
»Nun entschuldige schon!« sagte Linny ungeduldig. »Aber du kommst hier mitten in der Nacht hereingeflattert und erwartest, daß ich Alkohol im Haus habe!«
»Oh bitte, Kind! Nun echauffiere dich mal nicht so! Jeder weiß doch, daß deine Tante Verula eine erbärmliche Schnapsdrossel ist!« erwiderte Hunibald barsch.
»Also gut, meine Tante trinkt. Aber sie hat auch allen Grund dazu. Sie hat Mamas Tod noch nicht verkraftet«, verteidigte Linny ihre Tante. »Meine Tante Verula hing sehr an ihrer Schwester. Ihr Tod war ein schmerzlicher Verlust für sie. Aber damit nicht genug! Der Verlobte meiner Tante ist ebenfalls bei einem Unfall ums Leben gekommen. Tante Verula hat zwei der wichtigsten Menschen verloren. Und das in ganz kurzer Zeit! Mag sein, daß sie trinkt, weil sie mit der Realität nicht fertig wird, aber das ist doch verständlich. Man kann es ihr nicht verübeln, daß sie im Alkohol einen Trost sucht. Aber das ist noch lange kein Grund, sie als ›Schnapsdrossel‹ zu beschimpfen! Sie trinkt, weil sie all die Schicksalsschläge nicht verkraftet hat.«
»Tse! Nicht verkraftet?! Und was war es, das sie vor Annabellas Tod nicht verkraftet hat? Das Wetter in Deutschland?«
»Nun werde mal nicht sarkastisch! Sie ist ein sensibler Mensch«, behauptete Linny.
»Pah! Ein schwacher Charakter ist sie! Nichts weiter! Und du, Hexenanwärterin!? Kennst nicht einmal den Unterschied zwischen Sarkasmus und Zynismus!«
»Also gut, denk meinethalben von Tante Verula, was du willst! Oh! Da fällt mir ein: Ich habe da etwas für dich-« Linny war vom Bett aufgestanden. Sie ging zur Kommode, öffnete eine Schublade und kramte darin. Eine Staubwolke stieg auf.
»Aha, soso. Das wird ja immer besser! Ich sehe, Sauberkeit ist auch nicht gerade deine Stärke!« höhnte Hunibald.
»Na und?« Linny zuckte die Achseln. »So ein bißchen Staub und Schmutz sind doch nicht weiter schädlich. Im Gegenteil: Schmutz hält das Immunsystem auf Trab! Sagt jedenfalls Tante Verula.«
»Also, bitte! Das ist mir ja eine schöne Erziehung!« Hunibald schüttelte den Kopf.
Nach einer kleinen Weile hatte Linny endlich gefunden, was sie gesucht