Carlo Fehn
Der Radspitz-Killer
Mit einem bösen Erwachen endet Hauptkommissar Pytliks erste Teilnahme an der traditionellen Seibelsdorfer Wenzel-Prozession. Seine Freundin findet in einer Scheune der Radspitz-Klause die zerstückelte Leiche des einheimischen Land- und Forstwirtes Josef Kestel. Gleichzeitig wird auf der Radspitze in einem ausgehobenen Grab ein menschliches Skelett entdeckt. Schon nach kurzer Zeit bestätigt sich für die Kronacher Polizisten ein Zusammenhang. Dann geschieht ein zweiter Mord, und Pytlik und sein Assistent Cajo Hermann müssen feststellen, dass sie es mit einem raffinierten Phantom zu tun haben, das den Ermittlern vom Kaulanger immer einen Schritt voraus zu sein scheint. Mit Hochdruck versuchen sie zu verhindern, dass der Radspitz-Killer ein weiteres Mal zuschlagen wird.
Der Radspitz-Killer - Hauptkommissar Pytliks elfter Fall
Carlo Fehn
published by: epubli GmbH, Berlin
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Copyright: © 2018 Verlag Carlo Fehn
ISBN 978-3-746786-62-9
Freitag, 13. August 2010
»Bist du sicher, dass es gehen wird?«
Hauptkommissar Pytlik hatte sein Auto am Parkplatz unterhalb der Radspitze in Seibelsdorf abgestellt und seiner Beifahrerin ein letztes Mal fürsorglich die Frage nach ihrem Wohlbefinden gestellt. Mit einer lapidaren Handbewegung wischte sie alle Zweifel beiseite und stieg aus. Ihren Rucksack holte sie danach von der Rücksitzbank, um anschließend hinunter ins Dorf zu blicken. Dann hob sie leicht ihren Arm und schaute auf die Uhr.
»Gut, ein bisschen später als geplant, aber ehrlich gesagt: Heute morgen hätte ich nicht gedacht, dass ich das Bett überhaupt würde verlassen können. Meine Güte! Was ist nur in mich gefahren?«
Es war schon fast 16 Uhr, und auch Pytlik hatte alles aus dem Wagen genommen, was er für den Aufstieg hinauf zur Radspitz-Klause brauchte. Er musste leise lachen, und er fühlte sich immer noch so glücklich wie lange nicht mehr. Schon die ganze Woche war Martina zu Besuch. Die Frau, die er während seines Aufenthaltes am Starnberger See im Vorjahr kennengelernt und in die er sich verliebt hatte.
»Ich denke, es ist ganz gut, dass das mit unserer – wie nennst du es? – unverbindlichen Fernbeziehung so funktioniert wie bisher. Dauerhaft wäre das Bier im Frankenwald wohl nichts für dich.«
Sie ließ es unkommentiert. Sein jetzt lautes Lachen quittierte sie mit Schweigen. Nach einigen Minuten Fußmarsch hatte Pytlik seine Freundin eingeholt und nahm sie im Vorbeilaufen in den Arm. Sie schaute verlegen.
»Mach dir nichts draus! Die Bierprobe ist Jahr für Jahr auch für viele Einheimische immer wieder eine große Versuchung. Dann noch das schöne Wetter! Und dass wir natürlich auch noch Cajo und seine Kumpels getroffen haben…«
»Trotzdem!«, versuchte die blonde Endvierzigerin nichts zu entschuldigen.
»Du weißt, dass ich sonst vielleicht mal ein Glas Wein trinke; auch mal zwei oder drei. Aber wieviel Bier war das?«
Pytlik kniff die Augen zusammen.
»Nach der zweiten Maß hättest du einfach nicht noch mit Cajo an die Cocktailbar gehen sollen!«
»Mist! Da bin ich zum ersten Mal in Kronach auf großer Bühne und dann blamiere ich mich gleich bis auf die Knochen! Super! Wahrscheinlich wissen bei dir in der Dienststelle jetzt schon alle Bescheid!«
Pytlik holte eine Wasserflasche aus der Seitentasche und reichte sie ihr.
»Mach dir da mal keine Gedanken!«
Nach einer guten Stunde erreichte das Paar sein Ziel. Martina wirkte abgekämpft. Der lange Abend auf dem Kronacher Freischießen hatte doch seine Spuren hinterlassen. Sie pustete kräftig durch, als das Plateau erreicht war.
Der Hauptkommissar musste sich eingestehen, schon lange nicht mehr hier gewesen zu sein. Zum Gasthof gehörte ein einladender Biergarten mit herrlichem Weitblick. Das Areal wurde komplettiert von einer großen Scheune auf der anderen Straßenseite, die – so machte es den Eindruck – für ein Fest vorbereitet wurde. Junge Mädchen waren damit beschäftigt, die etwas oberhalb am Hang gelegene Kapelle mit Blumen zu schmücken.
»Ganz schön viel los hier!«, stellte Martina fest, die Ausschau hielt.
An einem freien Tisch nahmen sie Platz, und auch der Hauptkommissar wunderte sich, als er sich setzte. Seinen Rucksack stellte er auf einen Stuhl.
»Scheint irgendein Fest zu sein oder so!«, spekulierte er vor sich hin, als eine rauchige Stimme hinter ihm gleich die Erklärung mitlieferte.
»Grüß Gott, die Herrschaften! Wenn ich helfen darf: Morgen ist die alljährliche Prozession. Ihr seid herzlich eingeladen mitzulaufen.«
Pytlik und Martina schauten sich an und waren erfreut über die unkomplizierte Art des Mannes, der Ende fünfzig zu sein schien. Er stellte sich als Gerhard Hölzer und Eigentümer der Klause vor. Er warf locker zwei Bierdeckel auf den Tisch, und nach einigen kurzen Informationen vorab versprach er, sich gleich um die Beiden zu kümmern.
Wenige Minuten später kam der Wirt zurück und gesellte sich zu Pytlik und dessen Begleitung an den Tisch. »So, ein Weizen für den Herrn, Apfelschorle sauer für die Dame! Zum Wohl!«
Er hatte sich auch ein Bier gezapft und setzte sich etwas schwerfällig auf die Bank. Während sein Körper vom Schatten bedeckt war, ließ er sich die tiefstehende Sonne auf den Kopf scheinen. Er kramte einen Lederbeutel hervor und begann, eine Pfeife zu stopfen. Nach einer kurzen Pause erzählte Gerhard Hölzer.
»Für Seibelsdorf ist das morgen einer der wichtigsten Tage im Jahr. Die Prozession für die furchtlosen Männer – so heißt sie eigentlich – soll in erster Linie an die Tapferkeit der zwölf Bauern und des damaligen Dorfpfarrers Wenzel erinnern.«
Gerhard Hölzer machte eine Handbewegung hinüber zur großen Scheune, in der einige Männer und Frauen die Vorbereitungen weiter vorantrieben. Bänke und Tische wurden abgeladen und aufgestellt. Grills und Kühlschränke, Verkaufstheken und auch Feldbetten standen noch ihren Platz suchend in der Gegend herum.
»Aber Sie wissen ja bestimmt, wie das heutzutage mit traditionellen Festen ist: Nur die ganz Alten wissen noch, was man eigentlich feiert oder wessen man gedenkt. Für die jungen Leute ist es halt ein Fest! Mit Bratwürsten und Steaks, Bier und später härteren Sachen an der Bar. Eben wie anderswo auch!«
Martina war interessiert.
»Erzählen Sie doch – ich meine von den Bauern und dem Pfarrer! Was ist damals passiert?«
Hölzer freute sich über das Interesse der attraktiven Frau. Er zog einmal genüsslich an der Pfeife und prostete den beiden zunächst zu. Dann begann er.
»Die Wenzel-Prozession!«
Hölzer stoppte, drehte seinen Kopf nach links und schaute ins Tal hinab. Für einen Moment schien er abwesend zu sein; sein Blick suchte etwas, das er nicht finden würde. Seine Augen wurden glasig. Seine beiden Zuhörer schauten sich gegenseitig kurz an, um dann gespannt zu lauschen.
»Ja, so heißt sie bei uns eigentlich nur: die Wenzel-Prozession!«
Hölzer drehte den Kopf zurück und schien nun wieder bei der Sache zu sein.
»Es war ein heißer Sommer damals! Es hatte Wochen, Monate nicht geregnet! Die Ernte war verloren, Mensch und Vieh litten! Petrus schien sich gegen uns verschworen zu haben. Ich war damals acht. Eines Tages lief meine Großmutter – Gott hab’ sie selig! – über unseren Hof. Plötzlich stöhnte und ächzte sie, stürzte mit dem Eimer in der Hand vorne über auf den Kopf und lag regungslos da. Man konnte ihr nicht mehr helfen. Hitzeschlag hat man hinterher gesagt. Bei ihrer Beerdigung wurden zwei alte Frauen am Grab ohnmächtig. Es war wie ein Fingerzeig des Schicksals.«
Hölzer zog wieder an der Pfeife und die Flamme des Feuerzeugs verschwand in deren Öffnung. Dann trank er einen Schluck, bevor er weitererzählte.
»Ich werde nie den Gesichtsausdruck