müllersches volksbad. Markus Seidel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Seidel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847632672
Скачать книгу
schätzten. Die ihn hymnisch lobten. Ich würde nicht auf ihn hereinfallen.

      Zwei Stunden später war die entsprechende Kritik geschrieben. Ich hatte ordentlich vom Leder gezogen. Zufrieden druckte ich den Text aus, las ihn zweimal laut und verabredete mich für den Abend mit einem Praktikanten aus meiner Redaktion, einem kahlrasierten, schmallippigen Germanistikstudenten mit immerschmutzigen Fingernägeln. Ein ehrgeiziger Bursche. Seinen Namen hatte ich vergessen. Hatte ich ihn eigentlich je gewusst? Egal.

      Im Laufe des darauf folgenden Tages probierte ich es erneut bei Alexander, einmal, zweimal, dreimal, ohne Erfolg. Auch am zweiten Tag erreichte ich ihn nicht. Bei Ulrike ging niemand ans Telefon. Ein Anruf in ihrer Werkstatt ergab, dass sie im Urlaub und erst in zwei Wochen wieder erreichbar sei. Wohin sie denn gefahren sei, erkundigte ich mich. Man wisse es nicht so genau. Aus dem Hintergrund hörte ich jemand rufen: Mutter, verstand ich, und: Karlsruhe. Sie sei also bei ihrer Mutter in Karlsruhe? - Gut möglich, man müsse jetzt Schluss machen, es gäbe viel zu tun. - Gut möglich? Ja oder nein?, fragte ich, das müsse ich jetzt schon wissen, es sei dringend. Gut möglich, wiederholte man trotzig. - Ob man mir jetzt bitte noch die Nummer der Mutter geben könne?! Ich sei die Schwester des Freundes der Chefin, sprich Ulrike, es sei wirklich dringend. - Und er sei der Cousin der Freundin des Schwagers der Mutter, hörte ich. Offenbar ein Witzbold. Im Hintergrund hörte ich ein Lachen. Ich lachte nicht. Dann war das Gespräch plötzlich beendet. Ich starrte verdutzt auf den Telefonhörer und drückte dann auf Wahlwiederholung, es erklang das Besetztzeichen. Ich wartete eine halbe Minute und versuchte es noch einmal. Besetzt. Ich wartete eine weitere Minute und wählte die Nummer ein drittes Mal. Diesmal endlich das Freizeichen. Niemand nahm ab, nur der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Ich hinterließ keine Nachricht.

      Ulrike war also bei ihrer Mutter in Karlsruhe. Was bedeutete das? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, rief bei der Telefonauskunft an, fragte nach der Nummer von Frau Bach, Ulrikes Mutter, deren Vornamen ich nicht kannte, es gab vierundzwanzig Bachs in Karlsruhe. Ich ließ es bleiben. Zwischendurch meldete sich zweimal dieser Paul, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Er ging mir allmählich auf die Nerven. Seine Sorge hatte etwas Hysterisches. Ich fragte ihn nach dem Vornamen von Ulrikes Mutter, er stutzte und wollte wissen, wozu ich den jetzt bitte bräuchte. Ich sagte es ihm, natürlich hatte er keine Ahnung. Ich fragte ihn nach den Freunden von Alexander, vielleicht konnten die mir weiterhelfen. Zwecklos, er habe sie schon allesamt kontaktiert, leider ohne Erfolg, wie er meinte. Natürlich könne ich es gern auch selbst noch einmal versuchen. Ich dachte an das letzte Telefonat mit Ulrikes Werkstatt und lehnte ab. Dieser Paul, musste ich konstatieren, wusste nicht wirklich viel. Bis zum späten Nachmittag versuchte ich es weiter bei Alexander, dann gab ich es auf. Ich rief zunächst einen befreundeten Arzt an, damit er mir eine Krankmeldung schrieb, dann meinen Chef, erzählte ihm etwas von schwerer Erkältung und nieste dreimal hintereinander erbärmlich und geräuschvoll direkt ins Telefon. Kurbald legte dann eilig wieder auf, als könne er sich fernmündlich bei mir anstecken. Ich musste nach München. Schließlich hatte ich es versprochen. Wahrscheinlich war alles ohnehin nichts weiter als ein einziges großes Missverständnis.

      4

      In meinem Adressbuch stand die Telefonnummer von Alexanders Nachbarin, Frau Dose. Bevor ich mich auf den Weg nach München machte, musste ich sichergehen, dass ich überhaupt Zugang zu seiner Wohnung hatte. Ich ließ es lange klingeln, ohne dass sich etwas tat, legte auf, drückte auf Wahlwiederholung, wartete. Schließlich ist sie schwerhörig, dachte ich, und bedauerte, dass man es als Anrufer nicht auch

       laut

      klingeln lassen konnte. Gerade wollte ich auflegen, da meldete sich Frau Dose. Als ich ihre leise und etwas brüchige Stimme hörte, sah ich sie förmlich vor mir: klein, lila Haare, mausgrauer Rock, graue feste Lederschuhe mit blassgelber Gummisohle, brauner Pullover. Sie steht in der Küche, auf dem Herd ein kleiner Kochtopf mit rotem Blümchenmuster. Drei einsame und sorgsam geschälte Kartoffeln schwimmen darin herum, das kochende Wasser blubbert hin und wieder über den Topf und verursacht ein Zischen auf dem heißen Herd. Auf der Nachbarplatte wird der Rotkohl vom Vortag aufgewärmt, zusammen mit dem Fleisch. In ihrer völlig überheizten Wohnung riecht es nach Essen. Vermutlich trägt sie einen Hauskittel, den sie ein Mal in der Woche wäscht, obwohl er noch vollkommen sauber ist.

      Ja, sie habe die Schlüssel, hörte ich sie sagen. Alexander habe sie ihr vor etwa einer Woche gebracht. - Ob ihr etwas an ihm aufgefallen sei, erkundigte ich mich. - Nicht dass sie wüsste, entgegnete Frau Dose, was ihr denn hätte auffallen sollen? Ob er krank sei? Worum es denn genau gehe? Im Hintergrund hörte ich eine Eieruhr klingeln. Ob mein Bruder etwa verschwunden sei? Himmel, wie hartnäckig neugierig sie war! Ich sagte ihr, dass ich mir die Schlüssel morgen holen würde, so gegen elf, ob ihr das recht sei? - Ja, ich solle ruhig kommen, sie sei daheim. Ich legte dann auf, bevor sie einen weiteren Anlauf nehmen konnte, etwas aus mir herauszuquetschen.

      Bedingt durch meine kurzfristige Reservierung waren für die Zugfahrt von Hannover nach München sowohl sämtliche Liege- als auch Schlafplätze vergeben, so dass ich gezwungen sein würde, die neun Stunden lange Reise im Sitzen hinter mich zu bringen. Schon liegend habe ich beim Zugfahren meine Schwierigkeiten mit dem Schlafen. Noch schlechter hingegen dürfte es mir also sitzend gelingen. Ich richtete mich entsprechend darauf ein, hatte mein I-Pod eingesteckt und etwas zu schreiben. Ich nahm mir vor, die Zeit der Schlafverhinderung möglichst sinnvoll zu nutzen. Hunter S. Thompson wartete schließlich auf mich, mein Artikel, der endlich für den Durchbruch sorgen sollte. Auf der Zugfahrt würde ich an den ersten Sätzen feilen. In knapp zwei Wochen war Abgabetermin und Kurbald, mein Chef, war schon sehr neugierig; ich hatte ihm gegenüber einige Andeutungen zu meinem Beitrag gemacht und von bisher unbekannten Informationen und Neuigkeiten gesprochen, die ich exklusiv bekäme. Natürlich hatte ich da etwas übertrieben, aber ich musste den Mann bei der Stange halten. Schon einmal nämlich hatte er mir einen Strich durch die Rechnung gemacht, als er mir kurz vor der Fertigstellung eines Beitrages zu Thomas Bernhard und die Frauen, an dem ich über eine Woche gesessen hatte, zunächst mitteilte, dass das Erscheinen verschoben würde. Er wurde dann allerdings noch weitere zweimal verschoben, und am Ende hieß es, dass man ihn nicht mehr bringen könne, aber wenn ich wolle, könne ich ihn ja an eine andere Zeitung verkaufen. Das hatte ich dann auch versucht, aber es fand sich bloß ein einziges Blatt, das meinen Text über Thomas Bernhard und die Frauen drucken wollte, und zwar die Schülerzeitung eines Mädchen-Gymnasiums in Celle. Die Schwester eines damaligen Praktikanten unserer Zeitung ging auf diese Schule. Sie hatte diese Schülerzeitung ins Leben gerufen und der Praktikant hatte ihr meinen Beitrag zu lesen gegeben. Ich bekam drei oder vier Leserbriefe von Schülerinnen, die mich darauf hinwiesen, dass ich das Geburtsdatum von Bernhard unkorrekt angegeben hatte, und ich ärgerte mich dann, dass ich der Schülerzeitung meine Einwilligung gegeben hatte, den Text zu drucken, noch dazu honorarfrei.

      Als ich mein Abteil betrat, saßen bereits zwei Leute an den Fensterplätzen: Rechts eine ältere Dame in dunkelgrünem Rock, einer gleichfarbigen Joppe mit Hirschhornknöpfen und einem grünen Hut, den sie auch jetzt noch trug. Eigentlich fehlten bloß noch die Flinte und der Jagdhund. Sie roch nach Seife. Das ganze Abteil war erfüllt von diesem durchdringenden Seifengeruch. Schon im Gang hatte ich ihn wahrgenommen, obgleich die Abteiltür geschlossen war. Ihr gegenüber saß ein Typ mit kurzen, mittelblonden Haaren und schlanken Fingern ohne Ring. Er trug Jeans und ein enges weißes Hemd. Ob die beiden zusammengehörten? Mutter und Sohn auf Reisen? Eher unwahrscheinlich. Fast war ich froh, dass ich keinen Liegeplatz mehr bekommen hatte. Einer von beiden, soviel stand fest, saß unberechtigterweise am Fenster, denn ein Platz - links oder rechts, die Alte im Jagddress oder der Schöne, ich wusste es nicht - war von mir reserviert. Nachdem ich mit einem kräftigen Ruck das Fenster geöffnet hatte, um den Seifengeruch zu vertreiben, griff ich in die Innentasche meiner Jacke, in der sich das Portemonnaie mit dem Fahrschein und der Reservierung befand. Es stellte sich heraus, dass mir der rechte Platz gehörte. Der, auf dem die ältere Dame saß. Folglich würde ich also vis-a-vis dem Schönen sitzen. Ideal, dachte ich. Vielleicht würde es uns sogar gelingen, die Alte aus dem Abteil zu vertreiben, dann wären wir ungestört.

      Eine angenehme Fahrt stand mir also bevor: Ich würde dem Schönen gegenübersitzen, wir würden die ganze Nacht