Edda drückte der Schuh der Schuld, sie fühlte sich tief im Inneren, sehr tief, schmutzig, unwürdig. Sie verbarg ein Etwas vor sich selbst und die Dornen dieses Etwas hatten das Göttliche in ihr vertrieben. Das zumindest glaubte sie.
Edda politisierte nie, auch das hatte Fausto an ihr bemängelt. Eine politische Null hatte er sie genannt. Sie konnte sich nicht über Politiker, ihre Parteien oder deren Machenschaften ereifern. Ihr kam alles falsch vor, und sie hatte weder die Idee noch das Wissen für einen Verbesserungsvorschlag. Also hielt sie den Mund, wenn es um Politik ging.
Militärstaat, Diktatur, Polizeiübermacht, Rassismus. Diese Worte tauchten tausendmal und öfter im „Schornstein“ auf. Sie hatte einen laienhaften Überblick, eine Vorstellung von diesen Begriffen und verband sie mit etwas Negativem. Aber sie glaubte auch eine miserable Verwirklichung dessen zu sehen, was sich auf der Welt Demokratie nannte, oder was man unter dem Namen der Gleichberechtigung in die Tat umgesetzt hatte. Auch hier empfand sie sich, weder für einen aktiven noch für einen verbalen Einsatz, als nicht zugehörig. Es ging sie etwas an, doch sie stand abseits. Andere stritten für sie.
Edda empörte sich nicht, so wie Fausto, über das bedauernswert langsame Fortschreiten der allgemeinen Menschwerdung. Sie steckte selbst mitten drin in dieser Werdung und wusste mittlerweile, dass man besonders bei dieser Art von Entfaltung mit Rückschlägen rechnen musste. Oder mit totalem Stillstand. Und wenn überhaupt, nur mit kleinsten Fortschritten, etappenweise. Geduld, dachte Edda, wenn Fausto über die Pest der Ignoranz wetterte, wer war denn schon jemals angekommen?
Sie war schon für die forschen 68-er unbrauchbar gewesen. Sie konnte nicht demonstrieren, konnte ihren Unmut nicht hinausbrüllen. Schon gar nicht in einer großen Gruppe von Menschen, die angeheizt von der Energie der Masse, sich für oder gegen etwas ereiferte. Sie fürchtete den Terror, die Bestrafung, das Illegale. Sie hielt sich für feige. Terror war ihr zur Genüge aus dem persönlichen Umfeld der elterlichen Vergangenheit bekannt, sie hatte ihn zu intensiv erlebt, um sich ihm jetzt auch noch, fern des Elternhauses und in der Öffentlichkeit, anzuschließen.
Edda bewunderte die Revolutionäre der Weltgeschichte zwar, oder tapfere Vorreiter einer guten Sache, aber sie hätte sich niemals aus freiem Willen einer Revolution angeschlossen, wäre nicht dem allerkleinstem öffentlichen Protest beigetreten, es lag ihr fern, für Recht und Freiheit lauthals zu protestieren. Sie wollte ihre Menschwerdung als Insel verwirklichen, sie lieber vorsichtig auf Zehenspitzen holen und nebenbei nachsehen, was es denn nun wirklich mit diesem „All Eins“ auf sich hatte.
Sie empfand, die von Fausto beschriebene, fern von Rattenkot stationierte Glückseligkeit, seit ihrer frühen Jugend. Obwohl ihr das nicht bewusst gewesen war. Für sie war es immer eine Art Versteck gewesen, sie nannte es allerhöchstens, ein Sich-Vergessen. Bisher hatte ein Wächter in ihr dieses Empfinden vor dem Zugriff des Intellekts bewahrt.
Als Fausto ihr zum ersten Mal dieses, wie er es nannte, wahre Daseinsgefühl beschrieb, fühlte sie eher Bedauern als Erstaunen, mit dem Gefühl, als würde ihr ein ureigenes, wortloses Geheimnis genommen, benannt und öffentlich bekannt gegeben. Eine ähnliche Empfindung hatte sie einige Male später in Verbindung mit ihrer Kunst. Sie war abgetaucht, hatte sich und die Welt vergessen und von irgendwoher gelenkt ein Werk entstehen lassen. Sie war wie immer, nicht ganz zufrieden über das Resultat und wollte gleich zum nächsten spurten. Eine Art Sucht, sie wollte mehr davon. Beinahe glaubte sie, Zugang zu einer neuen, bisher unbekannten Art sich dreidimensional auszudrücken, gefunden zu haben. Dann wurde ihr in einer Zeitschrift oder einem Fernsehbericht genau das von ihr allein jungfräulich geglaubt Empfangene präsentiert. Als Neuheit!
Fausto machte sie auf das kollektive Unterbewusstsein aufmerksam. Sie erinnerte sich, darüber hatte sie ja schon im Zusammenhang mit den Symbolen gelesen. Also war sie doch ein Glied in der Kette, sie gehörte doch dazu! Wie sonst konnte man sich diese Verbindung erklären. Zum gleichen Moment, an verschiedenen Plätzen der Welt, hatten Menschen, ohne miteinander oder über andere kommuniziert zu haben, ihre höchst eigenen Inspirationen auf dieselbe, bisher unbekannte Weise zum Ausdruck gebracht. Alle schöpften irgendwie aus demselben Kessel, dachte Edda und unterhielt sich mit Fausto darüber, sie erwähnte sein Lieblingswort.
„Na ja, mit dem „All Eins“ hat das noch lange nichts zu tun“, meinte er ein wenig überheblich, so empfand es Edda. “Aber es ist eine Richtung dorthin.“ Er freute sich, dass sie angebissen hatte.
„Ich sehe das mit meiner Schreiberei ähnlich, außer der schriftstellerischen Begabung und einer nötigen Portion Fantasie, benötigt man besonders den dichterischen Glauben. Der verbindet mich mit allen anderen Schreiberlingen. In diesem Glauben treffen sich oft die gleichen Ideen. Er ist dem vernunftsmäßigen Glauben eigentlich überlegen, wenn du dir unter diesem Unterschied etwas vorstellen kannst?“ Edda stutzte, Glaube aus Vernunft? Wie widersinnig!
„Der dichterische Glaube ist menschlicher, er hat die empfundene Realität der jeweiligen Person in sich, er besitzt zwar auch das allgemein Reale, hat es aber eher wie eine Basis in sich, von dort geht er aus, entwickelt sich daraus, schraubt sich in die Höhe mit seinem Fantasieglauben. Ein Reichtum, der zwar auf der Wirklichkeit basiert, sich aber darüber hinaus erweitert, in die wesentliche Vielfältigkeit des Seins greift. Dieser Glaube ist auf jeden Fall der Vernunft überlegen.“
War das nun seine Meinung oder wieder eine dieser verwirrend ausgesprochenen Wahrheiten? Edda war ein wenig müde dieser, ihrer Meinung nach, oft albernen Rederei. Immer nur Worte, die sich wichtig machten, die ihre natürlichsten Empfindungen und täglichen Gedanken in einen philosophischen Hokus Pokus mit erfundenen Schwierigkeitsgraden umwandeln wollten. Worte, die zu den normalen Dingen ihres Lebens eine verbal gestrickte Entfernung schafften, sie laut dieser Worte komplizierter zu sein schienen als eine Mondlandung. Sie jonglierte doch beinahe ihr ganzes Leben lang mit diesen beiden Welten, er trug Eulen nach Athen. Warum sagte Fausto „Dichterischer Glaube“, als sei das etwas Außergewöhnliches. Warum sagte er nicht einfach, Fantasie, individuelles Empfinden oder Vorstellung. Natürlich ist sie real, da man sie wahrnimmt, egal ob es vom Gegenüber oder dem Rest der Welt messbar ist oder nicht. Eine individuelle Realität, deshalb ist sie von höherem Wert, nicht weil sie aufbaut auf allgemeiner Realität, sich potenziert, wie albern. Das kann man doch auch simpler ausdrücken, zum Beispiel, mein Hunger ist nicht deiner, aber realer für mich als für dich. Das sagte sie ihm, er lächelte sie milde an.
Dieser Blick irritierte Edda immer wieder, sie fühlte sich zur Schülerin degradiert. Nur weil sie dem Bildungsgrad seiner Welt nicht entsprach und ihr Lippenrot öfter erneuerte, durfte er ihren ersehnten Status, den einer ernst zu nehmenden Gesprächspartnerin, doch nicht überlächeln. Das kann man alles lernen, dachte sie trotzig, doch in die Welt der Fantasie muss man hineingeboren sein, und da ist er unbestritten ein Analphabet. Oder zumindest mir unterlegen. Schnell schwächte sie ihren blasphemischen Gedankensprung, Faustos Genius gegenüber, etwas ab.
Machte sie etwa den Fehler ihres Vaters, sich mit der Überlegenheit ihres Gegenübers messen zu wollen? Die Fantasie war ihr heilig, außerdem war sie das einzig wirksame Mittel, das Edda gegen die Angriffe aus ihrem Seelendunkel einzusetzen wusste, eine konsequente Steuerung in Richtung Fantasie. Damit war sie aufgewachsen, es war eine Intelligenz für sie gewesen, die lebenswichtig war, immer noch. Sie tat das mit Leidenschaft und vertraute der Intuition. Sie fühlte sich von der zeitlosen Wahrheit des Glaubens berührt, ihr „Roter Faden“, der sie schützte, ohne dass sie es wusste. „Ist es denn nötig zu glauben?“, wurde sie einmal gefragt. Darauf wusste sie keine Antwort, genauso hätte man sie fragen können, „Ist es nötig eine Frau zu sein?“
Edda hatte in Faustos „Bibel“ gelesen, „Love is the crown of all being“, das zitierte sie vor ihm, als er ihre dichterische Liebesqualität wieder einmal mit Erklärungen über das Wahre in den Schatten stellen wollte. Warum sollte der Liebeswunsch die Entwicklungsmöglichkeit und alle Wahrheit zerstören? Edda