Jeremiah bedankte sich für die Informationen und stieg in den Waggon. Wynfried und Yblah folgten, wobei Yblah als Schwarzer einen misstrauischen Blick des Kontrolleurs abbekam. Als Diener war man Schwarze gewohnt, aber als gleichberechtigte Reisebegleiter eines Europäers noch nicht.
Zugfahrt mit Raymond A. Cyros
Das Abteil war gut ausgestattet und groß, es nahm den vierten Teil des Wagens ein. Sungear sicherte sich einen Platz am Fenster und hatte die Hand gleich wieder in dem Leinensack mit den Süßigkeiten. Der Gepäckträger wuchtete die Reisetaschen hoch und verabschiedete sich, nachdem er seinen Lohn erhalten hatte.
Jeremiah setzte sich bequem in eine Ecke und öffnete ein Buch über die Leitung eines modernen Manufakturbetriebs, das er aus der Akademie mitbekommen hatte. Das Buch stammte aus dem verbotenen Teil der Bibliothek. Nun musste er es lesen – klar, dass da schon wesentlich weniger Spaß dabei war, weil der Reiz des Verbotenen fehlte. Aber die Jungs sollten auch über diese Aspekte der Neuzeit Bescheid wissen, wenn sie nach Europa kamen. In dem Buch stellte man die Fabriken des amerikanischen Milliardärs Raymond A. Cyros als vorbildlich dar, was die technische Ausstattung, aber auch die Arbeitsbedingungen der dort beschäftigten Menschen betraf.
Auch Wynfried und Yblah lasen Bücher, die sie weiter in die moderne Welt des 19. Jahrhunderts einführten. Sungear schmatzte derweil genussvoll mit geschlossenen Augen und nahm von nichts mehr Notiz, nachdem der Zug angefahren war.
Ein dicker, kleiner Mann in einem hellen Anzug störte die Ruhe im Abteil, indem er die Schiebetür öffnete. Er hatte ein rundes Gesicht und trug einen Backenbart, was ihm ein gemütliches Aussehen verlieh. Begleitet wurde er von einer ganzen Gruppe von Lakaien und einem muskulösen Schaffner. Der Mann warf einen interessierten Blick auf Sungear und die Jungs und deutete dann eine kleine Verbeugung an. „Guten Tag, meine Herren. Wir sind sozusagen Reisegefährten. Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle: Raymond A. Cyros mein Name. Ich bin Besitzer dieser Eisenbahnlinie.“
Sungear hörte auf zu schmatzen, aber seine Augen blieben geschlossen. Um nicht unhöflich zu sein, stand Jeremiah auf, nannte seinen Namen und stellte sich und seine Freunde als Mitarbeiter eines Händlers aus London vor. So hatten sie es in der Akademie abgesprochen. Cyros musterte ihn und fragte: „Jeremiah ... wie?“
„Jeremiah Kendall, Sir.“
„So, so. Welche Art Handel betreiben Sie, wenn ich fragen darf?“
„Souvenirs und Relikte für archäologisch interessierte Laien und sogenannte magische Zirkel, wie sie in den Hauptstädten der Welt zunehmend entstehen.“
Cyros lachte laut, bevor er sagte: „Ja, die Magie kommt wieder einmal in Mode. Nun, wenn man damit Geld verdienen kann, warum nicht? Ich erlaube mir, Sie und Ihre Begleiter später in mein Abteil einzuladen. Es werden Erfrischungen serviert.“
Jeremiah bedankte sich für diese Einladung, die auf der langen Fahrt nach Alexandria sicherlich für eine angenehme Abwechslung sorgen werde. Cyros entschuldigte sich, er müsse nun weiter seinen Zug inspizieren, und ging davon.
„Gefährlich“, murmelte Sungear, kaum dass die Abteiltür wieder geschlossen war. „Haltet euch fern von diesem Kerl.“
„Was haben Sie gegen ihn?“, wollte Wynfried wissen.
Nun erst öffnete Sungear die Augen und sah die drei an. „Was seid ihr für Magier, wenn ihr es nicht bemerkt habt?“
„Wir sind keine Magier“, wagte Yblah einzuwerfen. „Nur Novizen, denen man angedroht hat, dass sie keinen Abschluss als Magier bekommen.“
„Halt den Mund! Ihr seid die drei fähigsten Novizen der Akademie. Unter anderem aus diesem Grund hat man euch auf diese Reise geschickt. Und ihr habt nicht bemerkt, dass dieser Mann keine Aura hat?“
Die Jungs sahen sich an. Keinem war etwas Besonderes aufgefallen.
„Jedes Lebewesen hat eine Aura, die man als magisch begabter Mensch erspüren und beeinflussen kann“, trug Sungear in überheblichem Lehrertonfall vor. „Wie schwach auch immer sie ausgeprägt sein mag. Aber dieser Cyros hat keine!“
Die Jungs mussten zugeben, dass sie darauf nicht geachtet hatte. Sungear konnte sich weitere abfällige Bemerkungen darüber nicht verkneifen. Sein Entschluss, sie nach Alexandria zu begleiten, sei richtig gewesen, wenn ihnen sogar so einfache Dinge entgingen.
„Und jetzt haltet die Klappe“, unterband er ihre Rechtfertigungsversuche. „Mir ist nicht gut.“
Jeremiah sah auf den Leinenbeutel mit Süßigkeiten, den Sungear auf seinem dicken Bauch liegen hatte. Kein Wunder, dass ihm schlecht ist, dachte er. Doch dann wurde auch ihm schwummerig. Er fing an, zu schwitzen, es flimmerte ihm vor den Augen. Ein leises Sirren überlagerte das Rattern der Eisenbahn.
„Hier stimmt etwas nicht“, stammelte er noch, bevor er das Bewusstsein verlor.
Gähnend erwachte Jeremiah. Er ärgerte sich über Sungears lautes Schnarchen, bevor er noch recht wusste, wo er sich befand. Das Rattern der Eisenbahn hatte sich nicht verändert. Draußen sah Jeremiah in der Ferne hinter Palmenhainen den Nil im gleißenden Sonnenschein liegen. Im Abteil war es heiß und stickig. Er stand auf, um das Fenster zu öffnen. Dabei weckte er Sungear.
„Störenfried!“, beschwerte sich Sungear, als er hochschreckte.
„Wir haben alle geschlafen“, erklärte Jeremiah.
Durch das offene Fenster blies der Fahrtwind schwül-heiße Luft herein, die nicht erfrischte, sondern zu Schweißausbrüchen führte. Jeremiah schloss das Fenster gleich wieder.
„Geschlafen?“, raunzte Sungear ihn an. „Dummkopf!“
Er sah die Jungs nacheinander scharf an, so als würde er einen Streich von ihnen vermuten. Dann sah er hoch zum Gepäck, seine Augen weiteten sich. Die Reisetaschen waren verschoben worden, aus einer von ihnen lugte der Zipfel eines eingeklemmten Kleidungsstücks hervor.
„Man hat unser Gepäck durchsucht, während wir schliefen!“, rief Jeremiah, der seinem Blick gefolgt war.
„Während wir betäubt waren“, korrigierte Sungear ihn grimmig.
„Unser Geld und unsere Wechsel!“ Wynfried sprang auf und holte eine der Reisetaschen herunter. Zum Glück war das Geld für die Reise noch da, ebenso die Pässe, die sie haben mussten, um nach Frankreich einreisen zu dürfen.
„Vielleicht wurden die Diebe bei ihrem Vorhaben gestört.“
„Diebe? Das war Cyros, und dem ging es nicht um das Geld“, sagte Sungear, „sondern um etwas ganz Anderes.“
„Um was denn?“
„Was Cyros gesucht hat, befindet sich noch gar nicht in unserem Besitz. Ihr wisst noch nicht einmal etwas davon“, orakelte Sungear. Er wuchtete sich von seinem Platz hoch und wollte gerade die Tür des Abteils öffnen, als draußen im Gang ein livrierter Diener erschien. Der öffnete die Schiebetür und überbrachte die Bitte, in den ersten Wagen zu Mister Cyros zu kommen, die Erfrischungen seien serviert.
Nachdem der Diener weg war, fragte Yblah erstaunt: „Wieso glauben Sie, dass Cyros etwas haben will, das sich in unserem Besitz befindet? Er soll Dollar-Milliardär sein! Es gibt nichts auf der Welt, was er sich für sein Geld nicht kaufen könnte.“
„Nur ein Kindskopf wie du kann glauben, dass man für Geld alles bekommt!“, fuhr Sungear ihn an.
„Also werden wir seine Einladung nicht annehmen“, stellte Wynfried bedauernd fest. „Schade, Erfrischungen wären jetzt genau mein Ding.“
„Warum nicht?“, fragte Sungear. „Es schadet nie, wenn man weiß, was der Gegner vorhat. Aber nur einer von uns geht. Jeremiah, du wirst Cyros besuchen.“
„Warum ich?“
„Du musst den Feind