Im Westen, wo in der Ferne die Lokschuppen und Wassertanks standen, stieg eine weiße Wolke in die klare Morgenluft. Langsam fuhr eine Lokomotive aus dem Depot in den Bahnhof ein, die ein Monster unter ihresgleichen war: doppelt so lang wie normale Loks, jedoch erstaunlicherweise ohne einen Tender. Sie war vollständig mit metallisch spiegelnden Blechen verkleidet. Die Waggons, die sie hinter sich herzog, waren ebenfalls in ihren Ausmaßen rekordverdächtig. Die getönten Fensterscheiben und polierten Seitenflächen zeigten einen Luxus, der dem Orientexpress angemessen gewesen wäre, aber nicht einer Eisenbahn, deren Aufgabe es war, ein paar Touristen in die Wüste zu transportieren.
Die Engländer fanden diesen Aufwand ganz selbstverständlich. Sie achteten nicht auf die letzten beiden Waggons des Zuges. Das waren einfache, halboffene Güterwagen, in denen man ein paar Holzbänke festgeschraubt hatte. In diesen Waggons durften die Einheimischen reisen, die sich eine normale Fahrkarte nicht leisten konnten.
Während der Zug hielt und die wenigen Passagiere einstiegen, kam der Mann in Schwarz die Bahnhofstreppe hoch. Er sah sich kurz um und ging zum Fahrkartenschalter.
„Medinet im El-Faijum, erster Klasse“, forderte er und zog ein paar Geldscheine hervor.
„Würden Sie mir bitte Ihren Namen nennen, Sir?“
„Wozu das denn?“
„Neue Vorschrift, Sir“, antwortete der Schalterbeamte mit einer Miene, als wäre die Frage eine persönliche Beleidigung. Da sein Gegenüber zögerte, sagte er noch einmal mit Nachdruck: „Ihr Name, bitte!“
„Gonther Virlan.“
„Beruf?“
„Magier.“
Unbeeindruckt füllte der Schalterbeamte ein Formular aus, zählte das von Virlan gereichte Geld nach und gab ihm dann den Fahrschein. „Der Zug fährt in wenigen Minuten ab, Sir. Ihr Abteil befindet sich im ersten Waggon.“
Gonther Virlan drehte sich um und musterte die Lokomotive und die Wagen. Er deutete auf ein Symbol aus verschlungenen Buchstaben, das neben jeder Waggontür angebracht war. „RAC? Was bedeutet das?“
„Das sind die Initialen von Mister Raymond A. Cyros, dem Besitzer dieser Eisenbahnlinie.“
„Cyros?“ Man hätte meinen können, Gonther Virlan spreche vom Teufel, so spuckte er den Namen aus. „Ich fahre nicht in einem Zug, der Cyros gehört!“
„Ein anderer Zug fährt leider nicht, Sir. Mister Cyros hat das Monopol für alle Nord-Süd-Verbindungen in Ägypten erworben. Wenn Sie in den El-Faijum wollen, bleibt Ihnen nur die Wahl zwischen unserer Eisenbahn und einer Kamelkarawane.“
Ohne den Schalterbeamten einer Antwort zu würdigen, machte Gonther Virlan kehrt und ging zu dem genannten Waggon. Der Schaffner, ein muskulöser Mann in Uniform, der an der Tür wartete, kontrollierte die Fahrkarte und fragte dann: „Ihr Gepäck, Sir?“
„Ich habe keines.“
Der verwunderte Schaffner warf hinter Virlans Rücken dem Mann am Fahrkartenschalter einen Blick zu. Der Schalterbeamte machte mit dem Daumen der rechten Hand die Geste des Halsabschneidens. Verstohlen grinste der Schaffner und nickte zustimmend. Gonther Virlan stieg derweil ein, ohne etwas davon zu bemerken. Der Schaffner pfiff auf seiner Trillerpfeife, bevor auch er in den anfahrenden Zug sprang.
Langsam glitt die mächtige Maschine aus dem Bahnhof und rollte zwischen den bescheidenen Hütten der Stadt Alexandria hindurch. Dann durchquerte sie die Zeltsiedlungen der Fellachen, die sich am Rande der Stadt niedergelassen hatten. Die Einheimischen in den Straßen neben den Gleisen staunten das Ungetüm an, das wie der Bote eines kommenden neuen Zeitalters der Technik durch ihre ärmliche Heimat zog.
Außerhalb der Wohngebiete beschleunigte der Zug und fuhr in raschem Tempo nach Süden.
Gonther Virlan schlenderte den Gang des Waggons entlang und sah in die einzelnen Abteile. Sie waren luxuriös ausgestattet, mit gepolsterten Sitzen, edlen Hölzern und Messingapplikationen. Aber sie waren alle leer. Kein einziger anderer Passagier befand sich in diesem Waggon. Virlan setzte sich in eines der Abteile und lauschte dem eintönigen Rattern der Räder auf den Schienen.
Er war kurz vor dem Einnicken, als ein leises, sirrendes Geräusch ihn hochschrecken ließ, dessen Quelle er nicht feststellen konnte. Obwohl es noch angenehm kühl war, traten feine Schweißperlen auf seine Stirn. Irritiert massierte er sich die Schläfen, blinzelte mit den Augen und stand auf. Mit unsicheren Schritten ging er zu der Verbindungstür zum nächsten Waggon. Die Tür war verschlossen.
Virlan presste seine rechte Handfläche auf das Schloss und murmelte einige magische Worte. Aber das Schloss widerstand. Ungläubig wiederholte er den Versuch, ebenso erfolglos.
Wütend machte er kehrt, blieb dann aber mitten im Gang stehen. Seine Augen zuckten und sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse. Mit den Händen begann er, magische Gesten auszuführen, die ihm Schutz bieten sollten gegen das Böse, das nach ihm griff. Ein schimmerndes Feld entstand um ihn, doch es war instabil und löste sich gleich wieder auf. Laut stöhnend brach Gonther Virlan zusammen und blieb bewusstlos liegen.
Gleich darauf öffnete sich die Verbindungstür zum nächsten Waggon und der Schaffner kam herein. Er war in Begleitung eines fülligen älteren Mannes, der auffallend klein und gut gekleidet war und einen Backenbart nach amerikanischer Mode trug.
Der Schaffner drehte den Körper des Bewusstlosen auf den Rücken, so dass der kleine Mann das Gesicht sehen konnte. „Ist er das, Mister Cyros?“
„Gonther Virlan“, sagte Raymond A. Cyros, „wie schön, dass wir uns unter solchen Umständen wiedertreffen.“ Er tastete die Brust des Magiers ab und fand ein kleines Amulett, das Virlan an einer goldenen Kette um den Hals trug. Der tropfenförmige Edelstein in der Mitte des Amuletts strahlte ein sanftes Licht aus. Sobald Cyros das Amulett berührte, erlosch das Leuchten des Steins.
Cyros nahm eine Pinzette aus der Tasche und brach damit den Edelstein aus dem Amulett heraus. Er legte ihn in eine Schatulle, nicht größer als eine Schnupftabakdose, die er in seiner Westentasche verstaute. Dann gab er dem Schaffner einen Wink: „Bringen Sie ihn in die Sicherheitszelle in meinem Privatwaggon!“
„Jawohl, Mister Cyros!“
Cyros ging mit beschwingten Schritten voraus. Der Schaffner hob Gonther Virlan hoch, warf ihn sich über die Schulter wie einen Sack und folgte dem Milliardär.
Jeremiah Kendall, Novize
„Die Eroberung der Welt durch Magie ist eine Aufgabe, zu der wir alle unseren Beitrag leisten müssen. Und damit meine ich auch dich, Jeremiah Kendall!“, grollte Sungear, der Vorleser, von seinem Stehpult herüber.
Jeremiah zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. Er zwinkerte seinem Freund Wynfried zu, mit dem er eben noch getuschelt hatte. Dann wandte er sich mit einer Miene übertriebener Aufmerksamkeit und Ehrfurcht an den Vorleser. „Ich bin begierig, Eure Weisheit zu hören“, sagte er die rituellen Worte, die jedoch so gar nicht in den Frühstückssaal passten. Die anderen Novizen an dem langen Tisch kicherten.
Sungear, ein völlig überfetteter, glatzköpfiger Mönch, warf einen bösen Blick in die Runde und fuhr fort, mit monotonem Singsang aus alten Papyrusrollen zu rezitieren. Dabei trat ein abwesender Ausdruck in seine Augen, über denen keine Brauen wuchsen und die in seinem feisten Gesicht wie große, grüne Knöpfe wirkten. Ob er wirklich glaubte, dass die Jugendlichen im Saal zuhörten, wusste niemand zu sagen. Vielleicht berauschte er sich nur an der magischen Wucht der Worte, die er in den kehligen Lauten einer längst ausgestorbenen Sprache intonierte.
Das Vorlesen von Papyrustexten während der Mahlzeiten gehörte zu den Ritualen, die der große Meister Gonther Virlan persönlich eingeführt hatte. Damals, bei der Gründung dieser unterirdischen Akademie.
Nicht einmal Jeremiah wagte es, diese Tradition in Frage zu stellen. Obwohl eine zwanzig Jahre alte Tradition gar nicht so viel ist, dachte