„Also meine Mutter kriegt nie was zu essen, da, wo sie arbeitet. Aber die arbeitet ja auch meistens abends oder nachts. Ich find das ja prima, daß Deine hier dann auch mitißt.“
„Normalerweise kocht sie sogar. Nur heute hatte ich gesagt, daß ich’s mache, weil Du nicht allein essen solltest und dazu noch was Aufgewärmtes.“
„Das wär aber nicht schlimm gewesen.“
„Kann sein. Aber ich wollte das nicht. Gemeinsame Mahlzeiten sind wichtig, weil man dabei gut miteinander reden kann. Findest Du nicht?“
Nicole zuckte die Achseln. „Hab ich noch nie drüber nachgedacht. Bei uns zu Hause gab‘s sowas nicht. Wenn, dann hab ich mit Kevin zusammen gegessen. Und der redet ja nicht.“
„Der wird schon. Laß ihm einfach etwas Zeit. Holst Du ihn mal?“
Als Nicole mit ihrem Bruder zurückkam, war auch Frau Batitsch in der Küche. Sie war mit ihrer Arbeit inzwischen fertig und wurde von Nicole höflich begrüßt. Das Essen gestaltete sich ein wenig schwierig. Stephan mußte den Kindern zeigen, wie sie mit dem Fisch umgehen mußten. Schließlich hatten sie noch nie eine Forelle filetiert. Als sie es begriffen hatten, aßen sie mit gutem Appetit. Offensichtlich schmeckte es ihnen. Allerdings waren sie beim Essen recht schweigsam. Kevin sowieso, weil er nie viel redete, und Nicole hielt sich zurück, weil die fremde Frau Bartitsch mit am Tisch saß. Die wiederum konnte ihrerseits mit den Kindern nicht viel anfangen, die sie nicht kannte. Immerhin erzählte sie, daß sie selber drei Kinder hatte, jünger zwar als Nicole und Kevin, aber sie besuchten die gleiche Schule.
„Den Matija Batitsch, den kenn ich“, sagte Kevin. „Der geht in meine Klasse. Der ist ziemlich gut im Sport. Aber geredet hab ich noch nie mit dem.“
„Hätte mich auch gewundert“, meinte seine Schwester. „Du redest ja fast nie mit jemand.“
Kevin zuckte mit den Achseln und sah verlegen auf seinen Teller.
„Ich werd ihn mal fragen, ob er Dich auch kennt“, sagte Frau Batitsch.
„Bestimmt nicht“, antwortete Kevin. „Der hat so viele Freunde, der hat mich garantiert noch nie bemerkt.“
Nach dem Essen wollte Nicole beim Aufräumen helfen, aber Frau Batitsch schickte sie weg. „Das ist nicht nötig, Kind“, sagte sie freundlich. „Geh Du mal lieber, kümmer Dich drum, daß Dein Bruder wieder gut ins Bett kommt und mach Deine Schularbeiten. Das hier, das mach ich schon.“
Nicole nickte und lief Kevin hinterher, der langsam die Treppe hinaufstieg. Sie ging mit ihm in sein Zimmer und sah ihm zu, wie er sich wieder auszog.
„Tut mir leid wegen vorhin, Kevin. Ich hätte das nicht sagen sollen.“
„Was?“ erkundigte er sich.
„Na, daß Du nie mit jemandem redest. Das war nicht nett.“
„Wieso? Stimmt doch aber.“
„Trotzdem.“ Sie betrachtete ihren Bruder, der inzwischen nackt vor ihr stand. „Du bist immer so lieb, da muß das nicht sein.“
Sie griff nach seiner Hand und zog ihn zu sich auf ihren Schoß.
„Was wird das denn jetzt?“ fragte er erstaunt. „Sowas hast Du ja noch nie gemacht.“
„Nee. Hab ich nicht. Aber ich wollte Dir auch mal sagen, daß ich unheimlich froh bin, daß ich Dich hab.“
„Naja, jetzt brauchst Du mich ja nicht mehr“, stellte er resigniert fest.
Nicole setzte sich mit einem Ruck auf. „Wer sagt das? Wieso das denn nicht?“
„Ich sag das“, antwortete Kevin ruhig. „Jetzt hast Du doch Stephan.“
„Aber der ist doch für uns beide da“, gab sie zurück. „Und außerdem ist er nicht mein Bruder. Das bist doch nur Du.“
„Na und? Ich kann Dir aber längst nicht so gut helfen wie Stephan. Allemal wenn ich jetzt auch noch krank bin.“
„Nee, aber Du hast mir bis jetzt immer geholfen. Denkst Du vielleicht, das vergeß ich einfach, und jetzt will ich von Dir nichts mehr wissen?“
Kevin zuckte ratlos mit den Schultern. „Keine Ahnung. Es wär ja auch nicht so schlimm. Aber ich hab Dich doch so lieb.“
Nicole schloß die Arme um seinen Leib und drückte ihn an sich. „Ich glaube, das weiß ich, auch wenn Du’s noch nie gesagt hast.“
„Das konnte ich nicht“, gab er zu.
„Aber gespürt hab ich’s trotzdem“, antwortete Nicole lachend. „Und ich hab Dich ja auch ganz furchtbar lieb. Und deshalb laß ich Dich auch nie, nie, nie im Stich, Kevin.“ Sie legte den Kopf an seine nackte Schulter. „Das mußt Du mir glauben.“
„Und ich dachte schon, jetzt wär ich ganz allein.“
„Was für ein Blödsinn!“ Nicole war jetzt richtig empört. „Ganz im Gegenteil. Jetzt hast Du nicht nur mich, jetzt hast Du doch auch noch Stephan. Oder ist er nicht nett zu Dir?“
„Doch, ist er, sehr sogar“, gab Kevin zu. „Heute morgen hat er mich ganz toll getröstet.“
„Wieso, was war denn?“
„Ach ich weiß auch nicht. Er hat sich richtig gut um mich gekümmert und mir das Frühstück hier hoch gebracht und so. Und auf einmal konnte ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht wieso, aber auf einmal mußte ich so heulen und konnte gar nicht mehr aufhören. Er hat mich einfach festgehalten. Da hab ich mich richtig gut gefühlt. Er hat mich nicht mehr losgelassen, bis es wieder vorbei war.“
Nicole faßte ihn bei den Armen und drehte ihn so, daß er sie ansehen mußte. „Wird Zeit, daß Du wieder gesund wirst, Kevin. Die viele Rumliegerei bekommt Dir nicht. Du denkst zuviel nach, und dann kommt so ‘n Mist dabei raus.“
Kevin lachte. „Wahrscheinlich hast Du recht. Aber jetzt sollte ich trotzdem wieder ins Bett gehen. Ich fühl mich ziemlich schlapp.“
Sie nickte und half ihm ins Bett. Erschöpft schloß er die Augen. Sie streichelte sein Gesicht. Er lächelte.
„Du Kevin“, sagte sie leise, „darf ich Dir mal ‘n Küßchen geben?“
Er schlug die Augen auf. „Aber das hast Du doch noch nie gemacht.“
„Aber gewünscht hab ich mir’s immer.“
Erneut schloß Kevin die Augen. „Ich auch“, gab er zu.
Nicole beugte sich über ihn. Was er dann allerdings bekam, hatte mit einem Küßchen wenig zu tun. Vielmehr gab sie ihm einen richtigen, langen und ausführlichen Kuß.
„Danke für alles, Kevin“, sagte sie danach. „Ich hab Dich so, so, so, so lieb.“
Kevin schlang ihr die Arme um den Hals und gab ihr ihren Kuß zurück. Mit Zins und Zinseszins. Nicole strahlte ihren Bruder an. Sie küßten sich ein drittes Mal.
„Ich glaub, das war jetzt aber mal nötig“, sagte sie danach.
Kevin lachte. „Das glaub ich auch.“ Er nahm ihre Hände. „Uns kriegen sie nicht auseinander. Was meinst Du?“
Er schüttelte den Kopf. „Ganz bestimmt nicht. Nicht, wenn wir nicht wollen.“
Nicole stand auf und strich ihm über den Kopf. „So, und jetzt ruh Dich mal schön aus. Ich geh nach drüben, Hausaufgaben machen.“ Sie drückte noch einmal seine Hand. „Und daß Du mir nicht wieder auf so blöde Gedanken kommst.“
Kevin zwinkerte ihr zu. „Keine Sorge. Wir haben ja jetzt miteinander gesprochen.“
***
Weil Freitag war, hatte Nicole ihre Schularbeiten schnell erledigt. Sie hatte ohnedies keine Mühe damit. Sie packte die Schulsachen zusammen und ging hinüber zu ihrem Bruder. Kevin schlief. Sie setzte sich