Silvaplana Blue II - Wir Kinder des Grauens. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524858
Скачать книгу
ich? Ich lag in Bochum unter den Terrorbomben der Engländer und lutschte am Daumen.

      Wo war meine Mutter? Sie lief in den Kessel der russischen Armee hinein. Ich fragte sie:

      „Was geschah, als die Russen kamen?“

      „Ach…“, sie schwieg.

      Ich ließ nicht locker.

      „Darüber kann man nicht sprechen.“, sie stierte vor sich hin. Ich bohrte weiter:

      „Kannst du dich an gar nichts erinnern?

      „Ach … nein ….“. Meine Mutter verschwand im Schweigen ihres eigenen Infernos.

       IV.

      Zu Weihnachten 1944 hatte meine Mutter Heimaturlaub. Am 2. Januar 1945 fuhr sie von Bochum nach Polen zurück. Sie sollte sich bei ihrer Dienststelle in Warta melden.

      Durch die Truppentransporte und die Flüchtlingsströme war die Situation auf den Zügen und Straßen chaotisch. Flüchtende Kinder und Frauen, Truppenverschiebungen, Kranken-, Verletzten- und Gefangenentransporte. Dieses Chaos von Menschen, Verzweiflung, Schmerzen und Tod hatte die Kanonen, Panzer und Gewehre der Russen hinter sich, die Bomben der Engländer und Amerikaner über sich, die Knute der Gestapo vor sich und Angst, Grauen und Entsetzen in sich.

      Meine Mutter kam am 12. Januar 1945 bis Kalisch. Auf dem Bahnhof in Kalisch kamen die letzten Züge aus Sieradz an. Die russische Armee war bereits in Warta. Eine Dienststelle gab es hier nicht mehr. Ihre nächste Dienststelle war Schützensorge bei Landsberg an der Warthe.

      Die Familie meines Vaters besaß seit Generationen einen Bauernhof in Schützensorge. Nach dem totalen Krieg war mein Vater für die Lebensmittelversorgung der Armee zuständig und meine Mutter für den Hof in Schützensorge.

       V.

      Vom 12. bis zum 30. Januar hatte die Rote Armee die gesamte deutsche Abwehrfront zerschlagen. Das Finale der Götterdämmerung des Dritten Reiches hatte begonnen: Die Marschälle Tscherniakowski und Rokossowski überrannten Ostpreußen, Marschall Zhukow den Warthegau und Marschall Konjew Schlesien.

      Am 31. Januar 1945 wurden Kämpfe bei Landsberg an der Warthe gemeldet. Die Rote Armee war jetzt bis Schützensorge vorgedrungen. Da lag der Hof meines Vaters. Eine russische Welle nach der anderen fegte über den Hof hinweg. Alle organisierte Verwaltung brach zusammen, auch das Transportwesen. Millionen von Menschen starben auf den Straßen und in den Wäldern. Das war eine Zerstörung, wie sie Europa niemals zuvor und die Welt niemals danach erlebt hat.

      Zerstört wurden in diesem Inferno nicht nur Häuser, Gebäude, Fabriken, Tiere und Äcker, zerstört wurden die Menschen. Alle Menschen, die in diese Hölle hinein kamen, wurden zerstört. Alle Menschen, die aus dieser Hölle heraus kamen, waren zerstört, Sieger wie Besiegte. Die einen verloren ihr Leben, die anderen verloren ihre Seele.

      Am 1. Februar wurde in Posen noch immer heftig gekämpft. Die Rote Armee sollte hier gestoppt werden. Trotzdem wurde der Tirschtiegel-Riegel von den Russen durchbrochen. Die Erste Weißrussische Front stieß bis zum Oder-Warthe-Riegel vor. Meseritz und Schwerin wurden genommen. Bei Küstrin wurde gekämpft.

      Mein Vater saß in der Festung Frankfurt an der Oder, vorläufig noch sicher.

      Am 2. Februar erstreckte sich der Kampf entlang der Oder von Nordosten bis nach Bischofssee. Nordwestlich ging die Rote Armee bei Zielenzig über die Oder.

      Die deutsche Zivilbevölkerung flüchtete vor dieser Maschinerie des Mordens. Der Flüchtlingsstrom ging in die Millionen. Er kam aus Ostpreußen, Pommern, Schlesien. Allein aus Swinemünde wurden 40.000 bis 45.000 Flüchtlinge gemeldet.

      Posen, Graudenz und Breslau hatten sich noch nicht ergeben. Um Landsberg an der Warthe wurde gekämpft. Zhukows Einheiten waren dabei, sich im Oderbruch festzusetzen. Sie mussten versuchen, so schnell wie möglich über die Oder zu kommen. Wenn Tauwetter einsetzte, war die Oder ein schwieriges Hindernis, zu schwierig, um hier mit Panzern, schwerer Artillerie und Armeeeinheiten rüber zu kommen.

      Die Oder ist ein Urstrom. Je nach Widerstand und Wasserführung bahnt sie sich ihren Weg wie es gerade möglich ist. Einen festen Stromverlauf gibt es nicht, dafür aber mehrere Oder-Arme, kilometerweit Sumpfland und Überschwemmungen.

      Die Sümpfe zwischen der Oder und Berlin sollten die größte Katastrophe der Roten Armee werden.

      Die Wehrmacht hatte sich auf die andere Seite des Oderufers zurückgezogen. Die Rote Armee hatte sich im Oderbruch etabliert, auch in Schützensorge. In Landsberg an der Warthe wurde das russische Hauptquartier von Marschall Zhukow errichtet.

      In Schützensorge war die Familie meines Vaters auf dem Hof versammelt. Meine Mutter war auch da. Während mein Vater in Frankfurt an der Oder in der Falle saß, war draußen auf dem Lande die Bevölkerung der Willkür des Siegers ausgeliefert. Das ging stereotyp nach Schema: Tortur, Massenvergewaltigung, Mord und Tot.

      Goebbels schrie sich noch immer das Maul wund. Er forderte die Deutschen auf, gegen dieses Inferno stehen zu bleiben und sich in den ‚Heimatboden einzukrallen’.“

      Den Deutschen blieb nicht einmal ein Grab, wo sie sich hätten festkrallen können.

      Goebbels sagte, wir müssen uns „Gegen diesen blutdurstigen und rachsüchtigen Feind ... mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen verteidigen, und mit einem Hass, der keine Grenzen kennt.“

      Welche Mittel? Welchen Hass? Keiner wusste, wie viele Minuten, wie viele Sekunden er noch leben konnte. Keiner wusste, unter welchen unmenschlichen Qualen er sterben musste. Der Sieger kannte keine Gnade, kein Mitleid und keine Barmherzigkeit.

       VI.

      Was geschah mit meiner Mutter als die russische Armee über den Oderbruch hinweg rollte? Wo blieb sie, als sich Zhukow in Landsberg an der Warthe etablierte?

      „Wo warst du als die Russen kamen?“, fragte ich meine Mutter.

      „Die Russen hielten mich für eine Polin.“, sagte sie.

      Meine Mutter eine Polin? Ich habe nie ein einziges polnisches Wort von ihr gehört. Aber das kann Verdrängung gewesen sein. Was weiß ich? Wenig.

      Diese wenigen Informationen, die ich hatte, bekam ich von den Einwohnern von Warta. Als ich 1986 in Warta war, sprach mich eine Frau an:

      „Ich habe ihre Mutter gekannt. Wir waren jeden Tag auf dem Hof. Wir waren vier Schwestern. Wir hatten keine Eltern mehr. Niemand kümmerte sich um uns. Meine älteste Schwester arbeitete auf dem Hof ihres Vaters in Warta. Sie war die beste Freundin von Hilde. Darum waren wir jeden Tag auf dem Hof. Hier bekamen wir zu essen. Hier haben wir überlebt. Als die SS kam und den Hof beschlagnahmte, mussten wir den Hof verlassen. Meine älteste Schwester kam als Dienstmädchen auf den Hof nach Schützensorge.“

      Diese Schwester lebte 1986 in Posen. Sie schrieb mir, sie möchte meine Mutter gerne wiedersehen. Als ich den Brief bekam, war meine Mutter schon tot.

      Eine solche Freundschaft hält auch durch die schlimmsten Katastrophen. Als die sowjetische Armee nach Schützensorge kam, wurde meine Mutter wahrscheinlich von ihren polnischen Freunden aus Warta gedeckt und als Polin ausgegeben.

      Aber diese polnischen Mädchen hätten ihr keinen Job als Köchin im Hauptlager von Zhukows Armee verschaffen können. Diese polnischen Dienstmädchen waren für die Russen Material. Sie konnten ihren Dienst in den polnischen Streitkräften der russischen Armee verrichten. Doch mit Lügen über die Identität von Deutschen wären sie weder bei den Russen noch bei den Polen weit gekommen

      Meine Mutter wurde aber Köchin für die sowjetische Armee. Sie machte den Feldzug der Eroberung von Berlin auf russischer Seite mit. Das erzählte mir eine Rote Kreuz Schwester 1961 in Briesen/Mark.