Unter Barbaren. Ralph Ardnassak. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ralph Ardnassak
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847617785
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wieder Sanierungsobjekt, begehrt bei Zahnärzten, Maklern, Notaren.

      Imposantestes Bauwerk: das Schloss mit dem dicken Eulenspiegelturm über dem Fluss. Konglomerat mehrerer Stilepochen und zurückdatierbar bis auf das 10. Jahrhundert.

      Lauschig, die Schlossgärten zu Füßen des Bauwerkes, einst Arznei- und Gewürzgärten.

      Gern besucht: der Bärenzwinger im Schloss, aufwendig erneuert. Die Stadt muss sich präsentieren.

      Unten schimmert die Saale. Sie hat sich erholt seit der Stilllegung der hiesigen Papierfabrik. Die treibenden weißen Schaumkronen sind verschwunden.

      Beinahe vierzigtausend Seelen zählt die Stadt, bekannt nicht nur wegen des Schlosses, dem Kurhaus, der Flutbrücke, den Kirchen, dem Tierpark und dem Carl-Maria-von-Weber-Theater.

      Bekannt auch ob der hohen Zahl an Arbeitslosen: sechsundzwanzig Prozent in Stadt und Landkreis! Bundesrekord!

      Wie in vielen ostdeutschen Städten klafft auch hier die Schere: die sauberen Fassaden der innerstädtischen Geschäfte buhlen um die knapper werdende Kundschaft. Auf den wenigen Parkplätzen vor den Geschäften stehen attraktive Limousinen deutscher Bauart. In den ruhigen baumreichen Wohnlagen an den Saaleufern: die Villen und Reihenhäuser derer, die es geschafft haben; nun aber der Notwendigkeit unterworfen, Wohlstand und Angepasst sein zu demonstrieren. Mancher hat einen Sitz gekauft im Theater, fünfhundert Mark teuer, und prangt ein Messingschild darunter, versehen mit dem Namenszug des edlen Stifters.

      Nahe beim Schloss, das Sozialamt der Stadt. Dichtgedrängt davor, die Hoffnungslosigkeit mit Bierdosen in den Händen, Kinderwagen schaukelnd. Am südlichen Stadtrand: das Neubau-viertel, von dem die Statistik sagt, jeder Dritte sei hier arbeitslos und älter als vierzig Jahre. Unruhepotential, das Fördermittel narkotisieren helfen! Hier wohnen die Hoffnungs- und die Mutlosigkeit. Vergraben in Alkoholismus und Promiskuität, sucht man Vergessen oder ergeht sich in Anklagen gegen die, die Arbeit haben und Angst, sie wieder zu verlieren. Vergraben in Kleingärten mit standardisierten Lauben und sonnabendlichen Kegelpartien, sind die Fußballergebnisse längst wichtiger als Politik. Die Tageszeitung liest man hier kaum: zu teuer das Abo! Resignation geht um. Ganze vierzig Menschen rafften sich auf zum bundesweiten Aktionstag gegen die Arbeitslosigkeit. Man hofft auf ein Wunder in Gestalt eines Jobs in den wenigen Rumpfbetrieben in oder vor der Stadt. Die weniger Anspruchsvollen hoffen auf eine Maßnahme oder auf einen Lottogewinn.

      Hat man die leichte Anhöhe hinter sich gelassen, am nördlichen Rand der Saalestadt mit dem Schloss, dem Kurhaus und den Kirchen, die Anhöhe, die sie den Gutsberg nennen, eine der wenigen Erhebungen in der tischartig ebenen Landschaft, dann ist man der Stadt und ihren Staus entronnen.

      Und die Fernverkehrsstraße führt nun beinahe schnurgerade hinauf nach dem Norden, bis nach Magdeburg, beinahe schnurgerade durch weite Felder, öffnet zögernd den Blick auf verloren wirkende Ortschaften darin, ohne Namen, die im Gedächtnis haften und immer weiter hinauf, durch die Börde, bis in die Altmark.

      Aber schon hier oben, auf dem Gutsberg, jenseits der Stadt im Tal der Saale, über ihren Dächern, schien es nun, als hätte man, nahe einem schweren Himmel, nichts weiter vor sich, als die Straße, die ins Nirgendwo führen musste.

      Weit und öd liegen die Felder, Felder bis zur Krümmung des Horizonts, kaum ein Baum, selten ein dürrer Strauch, kahl, in der flimmernden Hitze des Sommers, in den Stürmen des Herbstes, unter dem klaren Frosthimmel des Winters.

      Nichts als Acker: Getreide, Kartoffeln, Zuckerrüben, uferlose Versuchsfelder! Unterbrochen nur vom matten Strang der Schienen der Bahnlinie von Könnern nach Calbe, selten belebt

      noch, von der trägen und schmutzig-rötlichen Silhouette des einzigen klobigen Triebwagens, der aus Rentabilitätsgründen immer seltener fährt.

      Die Öde der Felder: unterbrochen nur von den Resten des stelzigen Wachturms am westlichen Horizont, rostigen Antennenpeitschen daneben über aufgeschütteten Erdwällen und löchrigem Stacheldraht – zerfallende Hinterlassenschaft der abgezogenen Sowjetarmee, verwaister Ort, gefürchtet, seit vor Jahrzehnten ein eifriger Wachposten vom Turm eine späte Radfahrerin beschoss, immer schon gemieden, auch, weil es hieß, hier waren Atomraketen gelagert.

      Die Öde der Felder, selten noch unterbrochen durch die Kirchturmspitzen einzelner Orte abseits der Straße, Nadeln im trüben Licht unter schwerem Himmel. Eine Straße in bleierner Landschaft. Es fließt der Strom des Verkehrs hektischer, eiliger, durch die Öde der Felder, durch das trübe Licht, zu einem Ziel hin, jenseits von hier!

      Etwa auf halber Strecke zwischen der Stadt im Tal und dem dürren Kirchturm der Ortschaft Neugattersleben, noch jenseits des verlorenen, hässlichen Haltepunktes Sprenzfeld an der Bahnlinie nach Calbe, links der Straße: um den backsteinernen Schornstein des Heizwerkes - die öde Anhäufung uniformer Gebäude, deren älteste auf das hier ansässig gewesene Junkerswerk und die Fliegergarnison zurückgehen. Uniforme Gebäude zwischen Bäumen, mitten im Acker, der Stadtteil gleichen Namens wie der Haltepunkt. Und die Aussicht: Felder bis zum Horizont, gegen die aufgehende Sonne die Umrisse von grauen Industrielandschaften.

      Die Zementwerke in der Nienburger Gegend.

      Jens Klatt, fünfunddreißig Jahre alt und seit neun Jahren in dieser Gegend, steigt mit müdem Schritt die Treppen im Flur des Miethauses hinauf wie jeden Tag. Es ist ein Miethaus, wie unzählige andere, die in Städten zwischen Rostock und Suhl stehen. Mief von lange getragenen Schuhen und Küchengerüche erfüllen den Flur. Es ist Nachmittag, und Klatt steigt die Treppen hinauf ohne den Blick zu heben, bis ganz nach oben, wo seine Wohnung ist. Eine Wohnung wie viele hier: sechzig Quadratmeter, drei Zimmer, Balkon, Zentralheizung. Eine Wohnung, in der er ein Fremdkörper geblieben ist.

      Klatt hat Feierabend. Er ist ein Privilegierter, denn er hat Arbeit, eine gut bezahlte noch dazu. Haustarif, in Anlehnung an den Bundesangestelltentarif Ost: das sind zweitausendsechshundert netto! Klatt hat diese Arbeit. Er hat sie durch Fürsprache seines Schwiegervaters, Karl-Dieter Schrock bekommen. Und Schrock, der Patriarch, wird nicht müde, ihm dies unter die Nase zu reiben, verbunden mit dem Hinweis, dass Arbeit heutzutage Gnade ist, bei offiziell vier Millionen Arbeitslosen bundesweit und einer Quote von sechsundzwanzig Prozent hier im Landkreis.

      „Also, alter Freund“, hört er Schrock deklamieren, „nur wer ein Einkommen hat, hat ein Recht auf Familie! Ohne Einkommen springst Du besser gleich in die Saale!“

      Klatt zieht die Schultern ein. Er ist vor seiner Wohnungstür angekommen. Die Tapete im Flur des Treppenhauses hängt in Fetzen herab. Das scheint niemanden zu stören. Warum sollte es ihn dann stören?

      Klatt schließt die Wohnung auf und blickt auf die rote Leuchtdiode des Anrufbeantworters. Dort blinkt es zweimal. Klatt kennt die beiden Nachrichten. Kristina Schrock, seine Schwiegermutter, hat sie gesprochen. Sie vermisst ihre Handcreme. Wer soll sie schon weiter haben, als er, Klatt, vor dem nichts sicher ist, auch nicht die Handcreme!

      Aus der Küche dringt der ätzende Geruch nach kaltem Rauch. Der überquellende Aschen-becher steht auf dem Küchentisch, daneben noch immer eine halb leere Kaffeetasse mit roter Lippenstiftspur am Rand!

      „Faules Arschloch!“, murmelt Klatt, und er sieht sich ängstlich und hastig um, ob ihn vielleicht jemand gehört hat, aber niemand ist da. Dann schließt er die Wohnungstür. Er verspürt eine überwältigende Müdigkeit und zugleich diesen Durst auf Bier, wie jeden Tag. Aber noch ist es später Nachmittag. Und wenn er jetzt trinkt, wird er einschlafen, das weiß Klatt. Also trinkt er nicht, noch nicht. Das ist besser so, denn bald kommt der Bus aus der Stadt mit seiner Tochter, und er hat noch viel zu tun: Betten bauen, aufräumen, Wäsche abnehmen und zusammenlegen, nasse Wäsche aufhängen, Geschirrspüler einräumen, Mülleimer wegbringen, damit es nicht wieder Ärger gibt, wenn sie kommt!

      Klatt fühlt sich müde und ausgebrannt wie ein Greis. Er weiß nicht, ob es das Frühjahr ist oder irgendetwas anderes, dass jede Kleinigkeit, die zu tun ist, ihm schwer wird.

      Mit müden Bewegungen räumt Klatt den Geschirrspüler ein, den sie von den Schrocks bekommen haben, wie beinahe die gesamte Wohnungseinrichtung. Dinge, die verpflichten; Dinge, die oft hervorgeholt werden, um Klatt zu beschämen.