“Peter, auch aus Deutschland?”, lächelte sie mich an und wirkte etwas nervös dabei. Durch meine grüne Sonnenbrille schaute ich sie an. “Ja, warum?”. “Ich bin Marie, Marie Michalski, du hast meine Tasche gefunden und mir ins Blue Lagoon gebracht”. Ich schob mir die Brille über die Stirn und schaute ihr in die Augen. “Ja, hab ich. Aber so im Vorbeigehen hätte ich dich jetzt nicht so ohne weiteres erkannt”, log ich, “du bist ja noch hübscher als auf deinem Passfoto, und deine Haare sehen so viel besser aus. Stimmt was nicht? Hat irgendwas gefehlt?”. Sie hob gleich abwehrend die Hände und schüttelte den Kopf. “Nein, nein, alles in Ordnung! Und danke für das Kompliment, das Passfoto ist wirklich gruselig, ist ja auch schon fünf oder sechs Jahre alt”. ”Das war kein Kompliment“, korrigierte ich gleich, ”das war eine ganz sachliche Feststellung“. “Noch besser”, lachte sie, wirkte schon weniger nervös und legte unvermittelt los:
“Ich habe dich gesucht und Gott sei Dank gefunden, um mich bei dir zu bedanken. Du hast mich gerettet, ich war echt kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Dann kam auf einmal Sopah, das Mädchen von der Rezeption, und sagte, da hat jemand angerufen, der deine Tasche gefunden hat, er will sie heute Mittag hierher bringen. Ich bin fast durchgedreht vor Freude, ich war so aufgeregt, bin nur noch auf meiner Veranda hin und hergelaufen, hatte auf einmal einen Riesenhunger, nachdem ich eineinhalb Tage vor Aufregung so gut wie nichts gegessen hatte.
Als Sopah mir dann so gegen zwölf dein Päckchen gebracht hat, war ich zwar überglücklich, aber auch irgendwie enttäuscht und hab sie gleich gefragt, wer das denn gebracht hat und warum er nicht selbst zu mir gekommen ist. ‘Weiss nicht’, hat sie gesagt, ‘ich habe ihm gesagt, dass du hier wartest, aber er meinte nur, ich soll dich grüßen. Ein netter, gut aussehender Mann, vielleicht so Mitte vierzig, etwas größer als du, sportlicher Typ, lange blonde Haare, grüne Sonnenbrille und wirklich sehr freundlich. Ich weiss nur, dass er Peter heisst und mit einem roten Motorroller hier war’. Dann hab ich das Päckchen aufgerissen, in die Tasche geschaut und alles war da, sogar das Geld. Und dein Zettel: ‘Peter, auch aus Deutschland’. Ich hab mich erst mal auf mein Verandatreppchen gesetzt und geheult. Dann musste ich ja anfangen, alles wieder rückgängig zu machen, was ich angeleiert hatte, zuerst habe ich meine Eltern angerufen und gesagt, dass alles wieder in Ordnung ist. Mein Vater hatte schon per Blitzanweisung Geld für mich an die Bank of Bangkok in Chaweng überwiesen”.
Endlich musste sie mal Luft holen. Ich hatte die ganze Zeit ruhig zugehört und sie angeschaut. Ein bildhübsches Gesicht, ungeschminkt, sah eher nach 25 als nach 35 Jahren aus. Ihre großen, grauen, manchmal leicht bernsteinfarben schimmernden Augen sagten schon mehr über die Lebenserfahrung einer 35-jährigen Ärztin aus. Ab und zu schüttelte sie ihre blonden Haare aus der Stirn, ihr zur Seite gescheitelter Pony reichte schon fast bis zur Nasenspitze, ihr zerzauster Schopf wirkte irgendwie lasziv.
Schon redete sie weiter, so, als müsse sie vorbereitete Erklärung zu Ende bringen. “Ich konnte noch nicht alles erledigen, aber dann habe ich meine Schweizer Freunde, die mir so viel geholfen haben, zum Essen eingeladen und wir haben gefeiert bis Mitternacht. Ich habe den beiden auch von dir erzählt und gesagt, morgen muss ich unbedingt diesen Peter, auch aus Deutschland, finden! Gott sei dank war Sopah noch eingefallen, dass es ja eine alte Freundin von ihr war, die aus dem Smile House in Bophut Beach angerufen und nach mir gefragt hatte. Und geschlafen habe ich wie ein Murmeltier, nach zwei schlaflosen Nächten. Mann, ich quassele schon wieder zuviel“. Sie war regelrecht ausser Atem. “Na, dann ist doch alles bestens“, sagte ich beruhigend, “komm, setz dich doch erst mal“. Wir setzten uns nebeneinander in den Sand und sie schaute mich forschend an.
“Warum hast du mir die Tasche nicht selbst übergeben?”. Ich überlegte ein paar Sekunden. “Ich versuche es dir mal so zu erklären: Wenn du deine Sonnenbrille am Pool liegen lässt und ich bringe sie dir zurück, dann lächelst du mich freundlich an und sagst ‘Oh, danke, sehr aufmerksam’. Wenn ich dir deine Digitalkamera bringe, die du im Restaurant vergessen hast, dann sagst du vielleicht ’Oh, super, ich hab sie schon überall gesucht, dafür spendiere ich aber nachher an der Bar einen schönen Drink’. Aber was machst du, wenn ich dir etwas so Wichtiges und Wertvolles wie deine Tasche zurückbringe? Da stehst du doch unter einem ganz schönen Zugzwang, oder? Das wollte ich vermeiden. Und ich will ja auch gar nichts von dir. In dem Moment, in dem ich die Tasche abgebe, bin ich mir doch hundertprozentig sicher, dass ich jemanden, wenigstens für ein paar Tage, überglücklich gemacht habe. Und dieses Gefühl ist sowieso unbezahlbar. Verstehst du, was ich meine?”.
Marie war im Laufe meiner Erklärung immer nachdenklicher geworden und sagte erst einmal gar nichts, sie schüttelte nur leicht, wie ungläubig, ihren Kopf. “So habe ich das noch nicht gesehen“, sagte sie langsam. “Darf ich dich trotzdem zum Essen einladen? Ich meine, falls du heute nicht schon was anderes vor hast. Du bist doch auch allein hier, oder?”. “Ja, natürlich, allein ist gar kein Ausdruck. Danke für die Einladung. Ich habe nur ziemlich gut gefrühstückt, kurz bevor du kamst, und tagsüber esse ich bei der Hitze gar nicht so viel und was sollte ich auch schon vorhaben. Ich weiss nicht, was du noch für Verpflichtungen hast, aber wie wär’s mit Abendessen? Und bitte lächele wieder, steht dir viel besser”. Sie lächelte nicht nur, sie strahlte wie ein AKW. “Gerne, alles klar, ich habe Zeit, ich habe doch Urlaub, heute ist mein erster richtiger Urlaubstag auf Samui! Wollen wir nicht mal auf einen Drink da vorne an die Bar gehen, ich hab einen furchtbaren Durst”. “OK, gehen wir“. Ich stand auf und nahm meine Fototasche. Gemütlich spazierten wir den Strand entlang zurück zum Smile House.
“Schön hier“, sagte sie und schaute noch einmal zurück über die gesamte Bophut Beach. “So ganz anders als Chaweng Beach. Angenehm ruhig, das Dorf, nicht so ein elendes Verkehrschaos wie bei uns”. “Wie bist du hierher gekommen?”, fragte ich sie. “Ich hatte mir schon am Tag nach meiner Ankunft hier so eins von diesen Mini Cabrios gemietet, weil ich ja gleich die Insel erkunden wollte. Und das habe ich immer noch“. “Und woher wusstest Du, dass ich am Strand bin?”. “Zuerst habe ich an der Rezeption nach einem Peter aus Deutschland gefragt, die wussten zwar gleich, wen ich meine, haben aber gesagt, ich soll mal im Restaurant fragen. Die haben gesagt, dass du gerade noch da warst und jetzt vielleicht am Strand bist. Und im Vorbeigehen habe ich an einem Tisch so ein paar wilde Typen deutsch sprechen hören, die habe ich auch noch gefragt ‘Kennt ihr Peter aus Deutschland?’. Haben alle genickt und gegrinst und gesagt ‘Ja’. Ich frage noch ‘Wisst ihr, wo ich ihn finde?’, da meint offenbar der Anführer der Bande ‘Ja, warum?’. ‘Errätst du nie’, hab ich ihm ebenso grinsend gesagt, ‘weil ich ihn suche’. Mein Gott, hat der mich bescheuert angeglotzt und gemeint ‘Der ist da draussen am Strand, aber du kannst auch gerne bei uns bleiben’. Unmöglich der Typ“. Entrüstet schüttelte sie den Kopf und ich lachte vor mich hin. “Tja, solche Antworten ist er als berühmt-berüchtigter Captain Bavaria nicht gewohnt“.
“Und so wie Sopah dich beschrieben hat, warst du ja nicht zu verfehlen“. Ich lachte noch etwas lauter. “Sopahs Beschreibung! Da hat sie sich aber ganz ordentlich vertan. Statt eines gut aussehenden Typs Mitte Vierzig findest du einen Mitte Fünfziger mit Glatze und Waschtrommel- anstelle von Waschbrettbauch. Herbe Enttäuschung!”. Sie lachte, blieb stehen und musterte mich von oben bis unten und zurück. “Nein, absolut nicht“, urteilte sie, jetzt wieder ernst, “ich finde ihre Beschreibung wirklich zutreffend“. “Sag ihr trotzdem, sie sollte lieber mal zum Augenarzt gehen”.
Im Smile House angekommen, setzten wir uns auf der Restaurantterrasse an einen Tisch unter zwei Sonnenschirme.