Nocturnia - Die langen Schatten. Torsten Thoms. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Torsten Thoms
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844240689
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Vater, der faktisch ohne Sohn einen Erben finden muss. Niemand weiß zwar genau, was geschehen ist, doch es muss ja einen Grund dafür geben, warum Juchata als Erste heiratet.“

      „Lass meinen Bruder aus dem Spiel“ Juchata fuhr auf, fauchte Calavus an, der nicht zurück wich.

      „Meine Liebe, ich spreche doch nur die Fakten aus. Natürlich weiß ich nichts, reime mir nur zusammen, was geschehen sein könnte. Also nichts für ungut. Du wirst richtig wählen, davon bin ich überzeugt. Es steht so viel mehr auf dem Spiel als nur Liebe oder das, was man im Allgemeinen dafür hält.“

      „Ach so, und was wäre das zum Beispiel?“

      „Auch wenn es dich ärgert, das Fortbestehen der Familie DeRovere hängt von deiner Entscheidung ab. Also musst du die Richtige treffen. Mehr sag ich nicht, alles andere wird sich dann zeigen.“ Selbstsicher spielte Calavus mit seinem spitzen Kinn, der seinem Gesicht auch ohne Ausdruck eine höhnische Fratze verlieh. Seine glatten langen Haare umspielten sein ebenmäßiges Gesicht, das man als schön bezeichnen konnte. Welch ein Gegensatz zur runden, fast bäuerlichen Visage des Gladicus, der seinem Vater so sehr ähnelte.

      „Du scheinst ja zu wissen, was die richtige Entscheidung wäre. Teile doch deine Weisheit mit uns.“ Juchata wurde immer wütender, Gladicus war die Situation bereits peinlich und er zog sich so weit er konnte zurück. Ein Riese, der sich klein machte wie ein winziges Tierchen und es schaffte, seine körperliche Präsenz auf ein Minimum zu reduzieren.

      „Meine Liebe, das liegt doch auf der Hand. Ich muss es dir nicht sagen, aber ich denke, du kommst selbst darauf. Dein Vater braucht einen würdigen Nachfolger und das ziemlich schnell. Schau dich um, es liegt so klar und offen vor uns wie diese....ja... diese Kuachti.“ Er zeigte auf die bittere Frucht, die zwar selten war, doch kaum jemandem schmeckte.

      Juchata wusste, dass Calavus recht hatte. Den Hinweis auf die bitterste aller Früchte hatte sie verstanden. Doch seine Arroganz war noch größer als sonst und sie hasste ihn dafür. Noch mehr jedoch hasste sie ihren Vater, der sie in diese Situation gebracht hatte. Sie steckte in der Klemme, denn plötzlich wurde ihr das Spiel ihres Vaters bewusst. Die Familie des Gladicus würde Vincus immer unterstützen, egal, was heute geschah. Die Borjas jedoch wären ein neuer, aufstrebender Verbündeter, alte Gegner der Familie, die Allianz würde Vincus neuen Auftrieb geben. Ihr Vater hatte sie betrogen, denn eigentlich hatte sie keine Wahl. Calavus kannte das Spiel und war sich seiner Sache so sicher, dass er die aggressivste Form der Unterhaltung gewählt hatte: Ehrlichkeit. Und die war kaum zu ertragen. Aus seinem Mund klang es auch beinahe wie eine Drohung. Doch Juchata hatte er unterschätzt. Sie war keine Nocturnin, die mit sich spielen ließ, auch ihre Familie hatte dazu kein Recht.

      Trotzdem fühlte sie ihre Pflicht, neigte den Kopf und schwieg.

      „Wir wollen speisen.“ Juchata musste Zeit gewinnen, in der Hoffnung, dass ihr doch noch ein Ausweg einfiel.

      Calavus lächelte siegesgewiss. Die Zeit spielte für ihn und er wusste es.

      Gladicus hatte nicht viel verstanden, machte sich jetzt relativ entspannt über die Köstlichkeiten her. Die bewundernswerte Naivität beschützte ihn davor, im tiefsten Innern verletzt zu werden.

      Juchata und Calavus ließen sich kaum aus den Augen, ihre Blicke waren hasserfüllt, seine einfach nur eiskalt. Und doch spürten beide eine Anziehung, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatten.

      Es war trotzdem ein ungleiches Spiel, denn die Machtverhältnisse schienen eindeutig. Beide wussten es. Nur einer erfreute sich an der Situation.

      Vincus hatte das Gespräch von seinem Guckloch im Nebenzimmer aus verfolgt, während Ketauro die Gäste unterhielt. Er wusste, dass Juchata sein Spiel jetzt verstand. Die Wahl war keine, er wunderte sich nur, dass sie es vorher noch nicht durchschaut hatte. Er rechnete damit, dass sie sich noch ein wenig zieren würde, doch im Grunde konnte er beruhigt sein. Das erste Mal in dieser Nacht erlaubte er sich ein leises Lächeln, das nach einer Sekunde erstarb. Wieder wurde er sich bewusst, was er seiner Tochter antat. Das wäre alles nicht notwendig gewesen, wenn Naxbil ihn nicht verraten hätte. Sein Sohn hatte sich still und leise wieder entfernt, niemand hatte Kenntnis von ihm genommen. Es war so als hätte er nicht existiert. Dass Naxbil für alle Zeiten erledigt war, wusste auch Vincus, denn die elitäre Gesellschaft ignorierte ihn bereits und strafte ihn mit Nicht-Achtung. Vincus würde sich eines Tages mit der Zukunft seines ältesten Sohnes auseinandersetzen müssen, was eine unangenehme Geschichte werden würde. Vielleicht ein Posten in der Armee, um ihn einige Jahre in den Kasernen verschwinden zu lassen oder sogar das Amt eines Ophraces, auch wenn das trotz seines Einflusses ungleich schwieriger zu bewerkstelligen sein würde. Vincus schob diese Gedanken davon, das hatte Zeit. Im Moment brannte es an anderer Stelle. Er schaute wieder durch das Guckloch, noch immer war keine Entscheidung gefallen. Also lehnte er sich zurück, stand nach einer Minute auf und ging wieder in den Aufenthaltsraum, in dem sich die Familien aufhielten. Seine Abwesenheit war kaum aufgefallen, denn Ketauro hatte eine der alten Geschichten aus seiner Zeit vor der Weihung erzählt, die immer gut ankamen und mit jedem Erzählen einige Details hinzugewannen. Vincus atmete auf und hörte seinem alten Freund zu, ließ sich von seinen Abenteuern gefangen nehmen und vergaß für diese Zeit alle Sorgen.

      Kapitel 4

      Naxbil war wutentbrannt in sein Gemach gestürzt, hatte sich die festlichen Gewänder vom Leib gerissen und rannte nun in einfacher Kleidung auf und ab. Tränen der Wut standen in seinen Augen, Wut auf seinen Vater. Und auf seine Schwester, die ihm das Erbe stahl. Wut auch auf die Arroganz der anderen Familien, die ihn ignoriert hatten. Seine Hoffnung auf Aufmerksamkeit war nicht erfüllt worden, seine Anwesenheit hatte niemanden in Verlegenheit gebracht. Alle waren nur erstaunt gewesen, ihn zu sehen, hatten sich damit jedoch nicht lange aufgehalten und ihn wie Luft behandelt. Am liebsten wäre er zurückgekehrt und hätte einen nach dem anderen abgeschossen. In voller Erregung griff er nach seiner Aphille, die direkt neben seinem Spiegel hing. Der lange Lauf aus dunklem Holz lag warm in seiner Hand, die Bolzen mit den stählernen Klingen, die noch nie das Fleisch eines Nocturnen, sondern immer nur wilde Acti gekostet hatten, starrten ihn voller Härte an als wollten sie ihn ermutigen, sich zur Wehr zu setzen. Oder ihn verspotten. So erblickte er sich im Spiegel, die kunstvolle Waffe in der Hand, sein verzehrtes Gesicht, das fratzenartig und lächerlich aussah. Es verstärkte noch seine Wut und mit einem heftigen Schlag mit der Aphille zerschmetterte er den Spiegel, der in Tausend Stücke zerbarst.

      Beinahe hätten die Scherben Naxbil verletzt, denn durch die Größe des Spiegels hagelte es Splitter, die fast den Sohn des Vincus erreichten, der erschreckt zurückwich. Wie aus einer Trance erwachte er jetzt, beschaute sein Werk und heulte kurz auf. Wie alles in dem Zimmer war auch der Spiegel ein antikes Stück gewesen, welcher so alt war, dass er beinahe schon ein eigens Leben besessen hatte. Traurig starrte ihn der leere Rahmen an, die geschnitzten burlesquen Figuren tanzten immer noch, doch nicht mehr um den Spiegel herum, sondern nur noch für sich, was ihnen ein sonderbar unnützes Aussehen verlieh. Es kam Naxbil so vor als drehten sie sich nach ihm um, schauten ihn vorwurfsvoll an, einige wollten ihm sogar drohen. Rasch wich Naxbil ein weiteres Stück zurück, nahm seinen Umhang und floh aus dem Zimmer.

      Auf der Treppe nach unten schaute er nochmals nach oben, wo die ehrenwerte Gesellschaft auf die Entscheidung seiner Schwester wartete. Noch war es nicht so weit, denn sonst würde es oben lauter zugehen. Er lief rasch hinab, trat über die prachtvolle Aufgangstreppe, die mehrere Phrakten breit war, in den Empfangssaal, der selbst für nocturne Verhältnisse düster vor ihm lag. Der rote Teppich hatte bereits bessere Tage gesehen, doch aus irgendeinem Grund hatte ihn Vincus noch nicht ersetzt, was schließen ließ, dass es einen guten Grund dafür gab. Naxbil hielt sich mit dieser Frage nicht lange auf. Er durchschritt die Halle und ging links auf eine Seitentür zu. Durch das riesige gotische Eingangsportal wollte er nicht gehen, schon weil sich die vier Phrakten hohe Tür so schwer öffnen ließ. Der einfache Seitenausgang erfüllte jetzt ebenso seinen Zweck.

      Draußen sog Naxbil die kühle Nachtluft ein. Vor ihm lag der verwilderte Garten, auf den Vincus ganz offensichtlich keinen Wert legte. Marletta, Naxbils Mutter, hatte den Garten gepflegt und so manches unheimliche Kraut angepflanzt, das jetzt wie außer Rand und Band wucherte und