Kapitel 4
Chris lag in einer ziemlich komisch aussehenden Position in seiner Badewanne, das Tagebuch von Merlia Jäger auf dem Bauch und dachte über sein nächstes Vorgehen nach. Er wusste nicht, ob es richtig war, so etwas derart Privates zu lesen, einfach so.
Doch die Besitzerin war verschwunden, wahrscheinlich sogar schon längst tot. War das ein Argument?
Der junge Mann setzte sich auf. „Ich will es noch nicht lesen.“, murmelte er und beantwortete sich damit selbst die Frage, über die er schon ewig nachgedacht hatte. Seine Angst war verebbt. Die Angst, von einer Leiche heimgesucht zu werden, schien ihm letztendlich doch als nicht normal und so hatte er sich davon überzeugt, dass das alles eine ganz logische Erklärung haben musste.
Chris stieg nun komplett aus der ungefüllten Wanne, öffnete die Badezimmertür, die er noch vor gar nicht allzu langer Zeit sorgfältig verriegelt hatte und trat in sein Wohnzimmer. Er schnappte sich den zerknitterten Zettel und legte ihn auf das Tagebuch. Beides verstaute er in seinem Tresor und eilte dann weiter, um die Überreste des Päckchens zu beseitigen. Er hob die dreckigen Zeitungsartikel auf und warf sie in seinen Papierkorb. Als er sich wieder umdrehte, war sie wieder da.
Eine hübsche, braune Border Collie Hündin sprang vor seinen Füßen auf und ab, ihre eisblauen Augen waren auf die seinen gerichtet und sein Herz schwoll an vor Liebe und Zuneigung. „Wird wohl Zeit für meine Tabletten, was?“, fragte er ruhig und fuhr der Hündin zärtlich über den Kopf. Diese gab nur ein klares Bellen von sich und lief wieder in sein Badezimmer. Chris folgte ihr, nahm die Dose mit dem Neuroleptikum und warf sich zwei Tabletten in den Mund.
„Weißt du, Sam, wenn du mich nicht daran erinnern würdest“, er sah nach unten, doch die hübsche Hündin war verschwunden, „dann würde ich noch vollkommen durchdrehen.“
Schmunzelnd stopfte er die Dose wieder zurück in eines der Regale und warf einen Blick auf die Uhr. Schon fast Mitternacht! Er rieb sich müde über die Augen und schmiss sich mit letzter Kraft auf sein weiches, einladendes Bett.
Schon als kleines Kind hatte er diese Medikamente nehmen müssen. Denn damals hatte er immer boshafte, dunkle Wesen gesehen, die an ihm zerrten und ihn kratzen, bis sein Blut auf den Boden tropfte. Als ihm dann der Kinderarzt gesagt hatte, dass er zum Psychologen müsse und dieser meinte, dass das Halluzinationen seien und das das nicht wirklich passieren würde, hatte Chris ihn so laut angeschrien, dass er dem Arzt dabei unaufhörlich ins Gesicht gespuckt hatte. Damals hatte er nicht verstehen können, warum der Arzt ihm nicht glaubte. Immerhin hatte er doch Wunden!
Doch als ihm sein Vater eine Videoaufnahme gezeigt hatte, in der Chris sich mit seinen eigenen Händen die Haut aufriss, da hatte er es verstanden. Da hatte er verstanden, dass nicht alles so ist, wie es zu sein scheint.
Daraufhin hatten sie ihm eine Hündin gekauft, die ihn immer an die Einnahme der Medikamente erinnerte und als sie an Altersschwäche starb, konnte Chris sie trotzdem immer noch sehen.
Und er wusste, wenn das passierte, dann war das ein Zeichen dafür, dass er kurz vor einem Schub stand, vor einer Psychose.
Aber es war schön für ihn, die alte Sam ab und zu mal wieder zu sehen. Wissen tat das natürlich niemand.
Doch Chris musste sich gestehen, dass er seine Krankheit oft herausforderte. Er wollte wissen, was er sehen konnte. Er wollte wissen, was hinter dieser Welt war, die jeder sah. Vielleicht konnte er jetzt, als erwachsener Mann, seine liebe Mutter sehen? Vielleicht war er jetzt auch stark genug, um es mit den dunklen Wesen aufzunehmen, ihnen zu zeigen, dass sie nichts waren, im Vergleich zu den guten Dingen im Leben.
Der junge Mann drehte sich grübelnd auf die Seite.
Ein ungeheures Verlangen war in ihm ausgebrochen.
Er wusste, dass es nicht richtig war. Er durfte nicht aufhören das Neuroleptikum zu nehmen. Wenn es nur um ihn gegangen wäre, dann wäre ihm das gehörig egal gewesen. Doch es ging eben nicht nur um ihn. Er brachte damit andere Menschen in Gefahr. Denn er konnte nicht wissen, was echt war und was nicht.
Und so könnte er im Glauben sein einer alten Dame über die Straße zu helfen, während er eigentlich einen Diebstahl in einem angesehen Schmuckladen beging.
Chris lachte traurig auf.
Damals war es sehr schwer für ihn gewesen, zu akzeptieren, wer und vor allem wie er war. Als Kind hatte er Angst vor sich selbst. Er konnte sich selbst nicht mehr trauen, er war nicht mehr er.
Diese Videoaufnahme hatte sein Leben eher ins Negative gezogen.
Niemand wollte ihn haben. Als Freund, als Schüler oder als Auszubildender. Er wurde gefürchtet und das war schlimm. Schließlich hatte Chris schon genug Angst vor sich selbst. Mussten ihm das seine Mitmenschen nun auch noch unter die Nase reiben?
Wahrscheinlich schon, dachte er sich bitter und schob seine Gedanken in die staubige Ecke in seinem Kopf. Und das letzte, was er vor dem Einschlafen spürte, war, dass diese sich mit seiner Angst wie alte Bekannte begrüßten und schon einen neuen, teuflischen Plan ausheckten.
Am nächsten Morgen hatte Chris einen Plan.
Ehrlich gesagt, hatte er noch nie einen richtigen Plan in seinem Leben gehabt, hatte immer nur nach Wünschen und Träumen gelebt.
Doch nun war es so weit. Er hatte ein Ziel, als er an diesem grauen, kühlen Tag die Wohnung verließ und durch die Nebenstraßen schlenderte.
Und es kam ihm so vor, als würde er zum ersten mal die Welt sehen. Mit ihren Ecken und Kanten, aber auch mit den wunderschönen Dingen, die sie ausmachten.
Als er beim Rathaus angekommen war, schien es, als sei er um Jahre und Erfahrungen gealtert. Doch es fühlte sich gut an.
Die Angst vor dem Alt sein, vor dem Ungewissen, die schien zu schrumpfen. Warum sollte man sich nicht mit dem zufrieden stellen, was man hatte? Es war auf seine eigene Art und Weise perfekt und einzigartig.
Chris stand da. Einfach so, ohne einen Muskel zu bewegen.
Er hatte im Gefühl, dass sich eine neue Tür öffnen würde, wenn er da rein ging. Falls er überhaupt in das Gebäude reinkam. Doch wenn eine Tür sich öffnete, dann fiel eine andere hinter ihm zu.
Der junge Mann sah entschlossen zu dem Gebäude auf.
Er wollte den Alten zur Rede stellen. Ihm sagen, dass es eine ungeheure Respektlosigkeit gewesen war, ihm nichts über den Inhalt des Päckchens zu verraten. Chris war sich sicher, dass der Alte gewusst hatte, was sich darin befunden hatte. Das es ein Stück einer Seele war, einer wahrscheinlich toten Seele.
Chris wollte dieses Tagebuch nicht in seiner Nähe haben und er wollte es erst recht nicht lesen. Wer wusste schon, was er darin finden würde?
Der Alte wird es wissen. Er hat mir einiges zu erklären!
Und mit diesen Gedanken stieg er die wenigen Stufen empor und klopfte wie am Vortag gegen die massive Tür. Und ebenso geschah nichts und Chris war gerade dabei, sich zu fragen, ob das ein Scherz sein sollte, als die Tür sich nun doch öffnete und eine alte Frau mit Brille vor ihn trat und ihn fröhlich musterte. Der Morgenmantel, den sie eng an sich ziehend trug, schliff am Boden entlang, als sie zwei kleine Schritte auf ihn zu machte und seine Hand mit einem kräftigen Händedruck schüttelte.
„Wir haben zu diesen frühen Morgenstunden noch geschlossen, junger Mann.“, meinte sie freundlich und war schon im Inbegriff die Tür wieder zu schließen, als Chris sie endlich unterbrach. „Ich muss mit einem alten Mann sprechen!“, sagte er und seine Stimme klang dabei ein wenig zu hektisch, zu angespannt.
Sein Gegenüber sah ihm lange und skeptisch in die Augen, ehe sie wieder mit einem freundlichen