Königreich der Pferde. Rudolf Jedele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rudolf Jedele
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741870422
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des Grates erreicht hatte und sich nun auf Augenhöhe mit dem Raubtier befand.

      Shandra richtete sich auf, atmete tief durch, pumpte frischen Sauerstoff in seine Lungen, ehe er sich langsam und voll angespannter Wachsamkeit auf den Tiger zu bewegte. Er setzte seine Füße voller Bedacht, er glitt nahezu lautlos auf den wartenden Gegner zu und da geschah etwas, das ihn beinahe aus der Fassung brachte.

      Plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, begann sich die Welt zu verändern. Mit einem Mal fühlte sich sein Körper fast wie schwerelos an, in seinen Muskeln, Bändern und Sehnen erwachte eine fast schon ungeheure Spannkraft und Geschmeidigkeit. Seine Nase begann Gerüche zu registrieren, die er schon beinahe vergessen gehabt hatte und sein Gehör empfing Frequenzen von ungeahnter Bandbreite. Die Schärfe seiner Augen steigerte sich in geradezu beängstigender Weise und er war zudem in der Lage zusätzlich zu den normalen Farben auch das gesamte Wärmespektrum zu sehen.

      Shandra konnte das unbeschreibliche Glücksgefühl kaum glauben. Er hätte jubeln können, laut hinaus schreien was er empfand, denn etwas für immer verloren Geglaubtes kehrte in diesen Augenblicken zu ihm zurück.

      Das Herz des Bären hatte ihn verlassen, als er den weißen Wolf in den Tiefen des Polareises versenkt und für immer versiegelt hatte. Neunhundert Jahre war er ohne dieses Gefühl der überlegenen Kraft und der unbesiegbaren Instinkte auf der Welt herum geirrt und jetzt, in diesem Augenblick stellte er fest, dass er dieses Herz nie verloren hatte. Es war nur verschüttet gewesen.

      Jetzt, ganz plötzlich, war der Bär in ihm wieder da.

      Seine unerschütterliche Kraft, seine kaum zu überbietender Mut und dies alles gepaart mit der Schläue eines Königs der grauen Bären, war zu ihm zurück gekehrt und setzte die Begegnung mit dem Tiger in ein vollkommen anderes Licht.

      Seltsam, aber auch der Tiger hatte die Veränderung in dem Menschen gespürt, der da auf ihn zu gekrochen kam. Zuvor hatte er Shandra vielleicht als ein leichtes Opfer betrachtet, eine Beute, die man – wie alle Menschen – einfach mal so, im Vorübergehen schlägt. Dann war die Veränderung eingetreten und nun sah sich der Tiger einem unbekannten Lebewesen gegenüber, einem Raubtier, welches ihm in allen Belangen womöglich ebenbürtig zu sein schien.

      Wilde Tiere - auch nicht die stärksten und wildesten unter ihnen - haben niemals das Bedürfnis, einander gegenseitig zu zerfleischen um den Nachweis zu erbringen, wer der Stärkere ist. Dies ist eine Verhaltensweise, die nur den Menschen zu eigen ist. Wilde Tiere kämpfen um ein Revier, um eine Beute, um das Recht der Paarung, aber niemals aus Prinzip.

      Der Tiger sah eindeutig keinen Sinn darin, mit diesem unbekannten Wesen einen Kampf auszufechten. Umso mehr nicht, als er an diesem Tag bereits eine erfolgreiche Jagd hinter sich gebracht hatte. Langsam wich die Spannung aus dem mächtigen Körper, die Krallendolche wurden eingezogen, die Augen weiteten sich von schmalen Schlitzen zu großen, runden und gelb leuchtenden Lichtern. Die nach hinten geklappten Ohren richteten sich auf, drehten sich nach vorne und dann erhob der Tiger sich in gelangweilter Lässigkeit, wendete auf der Stelle und verschwand auf der anderen Seite des Grates ohne Shandra noch eines weiteren Blickes zu würdigen.

      Shandra hatte sich auf einen dicken Wurzelstock gesetzt und starrte blicklos in das Dämmerlicht des Hochwaldes.

      Der Bär war zurück gekehrt!

      Zum ersten Mal seit hunderten von Jahren fühlte Shandra sich wieder ein klein wenig als der, welcher er in jungen Jahren eine Zeitlang gewesen war, als Shandra el Guerrero.

      Nach einiger Zeit stieg er zu seinen Rentieren hinunter, führte sie über den Grad und dort in ein kleines Flusstal hinein. Er folgte dem Gewässerrand flussaufwärts und kam auf diese Weise recht zügig voran. Er folgte dabei eher unbewusst denn absichtlich einer deutlich im Firnschnee lesbaren Spur. Es war die Spur des Tigers und es war, als führte ihn die riesige Katze zu einem ganz bestimmten Ziel.

      Shandra fragte sich, was er am Ende dieser Spur wohl finden mochte.

      Der ungeheure, endlose Urwald, die Taiga machte Shandra täglich mehr zu schaffen. Viel mehr als es die Weite der Tundra und ihre manchmal so unfassbare Lautlosigkeit je vermocht hätte. Er war vom Tag seiner Geburt an ein Mensch der Steppe, der Weite gewesen. Seine Blicke über den Horizont schweifen zu lassen war ihm Zeit seines Lebens eine liebe Gewohnheit gewesen, die er genutzt hatte.

      In den Steppen und in der Tundra vermochte ein Jäger und Krieger oft schon am Morgen die Gefahr zu erkennen, die ihm am Abend drohen mochte.

      Hier, unter den uralten Baumriesen der Taiga gab es weder einen Horizont zu sehen, noch konnte man seine Blicke schweifen lassen. Es sei denn, man hatte Spaß daran, jeden Stamm, jeden Busch mit seinen Blicken abzutasten. Gefahren und Ereignisse waren hier in der Taiga immer überraschende Vorgänge. Hinter jedem Stamm, unter jedem Busch konnte sich ein Angreifer verbergen und wäre dort nur durch Zufall zu entdecken. Die permanent vorhandene Geräuschkulisse erzeugte in ihm eine enorme Spannung, verursachte eine ununterbrochene Alarmbereitschaft und aus Spannung und Alarmbereitschaft erwuchs eine erhöhte Aggressivität. Selbst die geschärften Sinne des erfahrenen Jägers waren mit den ununterbrochenen Eindrücken häufig überfordert.

      Am meisten aber machte ihm die Tatsache zu schaffen, dass er vollkommen auf sich allein gestellt unterwegs war. Es gab niemanden, mit dem er reden, sich austauschen konnte und die Einsamkeit förderte sein Aggressionspotential in nie gekannte Sphären. In ihm brodelte ein Vulkan der Wut und des Hasses, ohne dass er in der Lage gewesen wäre, seine Emotionen auf ein eindeutiges Ziel zu justieren.

      Um dieser immer stärker werdenden Gefühle in seinem Inneren besser Herr zu werden, hatte er zuerst sein Reisetempo bis an die Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit gesteigert. Immer schneller war er durch die Wälder gehuscht, doch irgendwann war er auf natürliche Grenzen gestoßen. Die Rentiere, die sein Gepäck schleppten, waren im Gewirr des Urwaldes nicht annähernd so schnell und beweglich wie draußen in der Tundra und so blieb ihm nur die Wahl, entweder auf sein Gepäck zu einem großen Teil zu verzichten oder aber sein Marschtempo der maximalen Geschwindigkeit der vier Rentiere anzupassen.

      Als nächstes begann er vermehrt mit den beiden Wölfen herum zu balgen, die ihn für gewöhnlich wie dunkle Schatten in einem gewissen Abstand begleiteten. Nur wenn er ihnen ein Zeichen gab, kamen sie so nahe heran, dass er sie anfassen konnte und dann entwickelte sich oft eine freundschaftliche Balgerei, durch die er eine Menge der angestauten Gefühle abbauen konnte. Durch das Spiel mit den Wölfen stärkte Shandra natürlich auch die Geschmeidigkeit seiner Muskeln, Bänder und Sehnen und verbesserte seine Reflexe.

      Dennoch, schon bald stellte er fest, dass körperliche Anstrengungen und verstärkte Bewegung nur einen kleinen Teil der Wut in ihm zu kompensieren vermochten. Was ihm vielmehr fehlte, war eindeutig ein Gesprächspartner. Der Klang einer menschlichen Stimme in seinen Ohren, Worte deren Ursprung nicht aus seinem eigenen Geist kam. Doch genau dieser Gesprächspartner fehlte ihm und war auch nicht dadurch zu ersetzen, dass Shandra immer häufiger mit halblauter Stimme zu sich selbst sprach.

      Mehr als einen Mondzyklus war er bereits durch die Taiga gezogen und immer noch gab es nicht das kleinste Anzeichen dafür, dass Sungaeta ihn verfolgte, ihn aufzuhalten trachtete. Ebenso wenig, wie es Hinweise auf die Existenz anderer Menschen gab.

      Shandra und die Taiga, etwas anderes schien nicht mehr auf dieser Welt zu existieren.

      Sungaetas Abwesenheit war ungewöhnlich, denn alle Versuche die Tundra zu verlassen, die er zu früheren Zeiten zusammen mit Rollo unternommen hatte, waren spätestens nach einem halben Dutzend Tage zu Ende gewesen. Stets waren sie von der Hexe gestellt und unter Androhung schrecklicher Strafen in die Tundra zurück gejagt worden.

      Shandra vermochte nicht nachzuvollziehen, auf welche Weise es der Hexe gelungen war, ihn selbst und noch viel mehr Rollo derart einzuschüchtern. Ob es damit zusammenhing, dass es ihr schon vor mehr als fünfhundert Jahren gelungen war, die Haut und das Horn, die letzten beiden der magischen Relikte, die Shandra für sich behalten hatte, an sich zu bringen?