Nachdem die Kinder sich etwas beruhigt und ihre Fassung wiedergefunden hatten, bildeten sie einen Kreis um den Tisch. Eine Zuckerfabrikanersitzung wurde einberufen.„Was hast du denn angestellt, das dieses Ding da erschienen ist?“, fragte Ben Timmy recht vorwurfsvoll. „Ich habe überhaupt nichts gemacht“, antwortete dieser, sich keiner Schuld bewusst: „Ich habe nur nach dem Pinsel gesucht und mit meinen Händen die Mauer abgetastet. Auf einmal bröckelte der Putz ein wenig herunter und plötzlich waren meine Hände in diesem komischen Licht verschwunden!“. „Wie hat es sich denn angefühlt?“, wollte Kiki wissen. „Es war komisch. Erst fühlte es sich wie Wackelpudding an und als ich dann auf der anderen Seite ankam, spürte ich samtigen Wind und die Wärme der Sonne oder so etwas!“, erklärte Tim, immer noch sichtlich von diesem Erlebnis gezeichnet. „Auf der anderen Seite ankommen? Was meinst du denn damit?“, hakte Ben nun neugierig nach, bis hierhin verstand er nämlich nur Bahnhof. „Ich weiß auch nicht was ich damit meine!“, brach es aus Timmy heraus: „Wie soll ich denn etwas beschreiben, was ich vorher noch nie erlebt habe? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass es dort drüben weiterging und mich im Freien befand. Was soll ich denn dazu sagen? Ihr müsst es eben selber ausprobieren!“
Kiki und Vanessa schüttelten energisch ihre Köpfe. Auf keinen Fall waren sie dazu bereit, ihre Hände in den Lichtstrahl an der Wand zu tauchen. Ben hingegen trat einen Schritt auf das Loch zu und überlegte kurz, dann nahm er den Besenstiel in die Hand und befestigte den Putzlappen daran. Nachdem er seine Vorbereitungen abgeschlossen hatte, steckte er den Stab, samt dem Stückchen Stoff mitten in das Licht hinein. Zuerst hatte er ein wenig Mühe den Stab voran zu schieben, doch plötzlich ging es ganz leicht und er musste darauf acht geben, nicht mit seinen eigenen Händen hinterher zu rutschen. Der Junge schwang den Stiel kräftig umher und wedelte energisch. Nichts passierte. Nach etlichen Minuten holte er den Stab zurück. Voller Aufregung begutachteten die Kinder den Lappen, der immer noch am Besenstiel hing. Er war nass. Zögernd nahm Kiki den Stofffetzen in die Hand und roch daran. „Hm...ich glaube, das ist nur ganz normales Wasser.“, stellte sie kühl fest. Was sie genau erwartet hatte, konnte sie zwar nicht sagen, aber man konnte ihre Enttäuschung an ihrem Gesichtsausdruck erkennen. Normales Wasser war nun wirklich nicht gerade aufregend. Ben kratzte sich am Kinn und dachte über die ganze Sache nach, bis er eine Idee hatte: „Einer von uns muss seinen Kopf da hindurch stecken!“.
Ein peinliches Schweigen durchzog den Raum. Jeder schaute den anderen an, denn keiner wollte der Erste sein! Kiki kreiste mit dem Fuß über den Boden und tat so, als würde sie das Ganze überhaupt nichts angehen. Timmy pfiff vor sich hin und starrte an die Decke. Wie fest gefroren stand Vanessa an ihrer Stelle und wagte kaum noch zu atmen. Ben verdrehte die Augen: „Na gut, ihr Angsthasen! Ich habe es verstanden. Außer mir ist wohl keiner dazu bereit, den Mut dafür aufzubringen. Los, geht aus dem Weg!“ Wütend stapfte der Junge zum Loch in der Wand. Eigentlich war ihm schon vor seiner Frage klar gewesen, dass die Arbeit wieder an ihm hängen bleiben würde. Hätte er doch nur nichts gesagt. Ben stützte seine beiden Hände kräftig neben dem Loch ab, welches sich immer noch, mit Licht gefüllt und undurchsichtig vor ihm drehte. „Haltet mich wenigstens an den Füßen fest, nicht das ich da noch ganz hinein fliege!“, befahl er seinen Freunden grimmig. Die anderen Kinder gehorchten. Vanessa und Kiki setzten sich jeweils auf einen Fuß von Ben und umklammerten seine Beine. Von hinten hielt Timmy seinen Hosenbund und krallte sich dabei am Schreibtisch fest. „Drei, Zwei, Eins.“, zählte Ben herunter und atmete noch einmal tief durch, dann flutschte er mit dem Kopf durch die Öffnung in der Wand. Der Zug auf den Körper von Ben nahm enorm zu. Die Mädchen kämpften mit seinen Beinen, damit diese nicht vom Boden abhoben. Timmy ächzte und stöhnte, er konnte kaum noch die Hose festhalten, geschweige denn sich selber am Tisch. Mit letzter Kraft und unter größter Anstrengung riss er ein letzte Mal an Ben. Es reichte gerade so eben. Der Junge flutschte mit seinem Kopf aus dem Loch heraus und stürzte, samt den Mädchen an den Beinen, zu Boden. Sein Gesicht und seine Haare trieften vor Nässe.
„Wie lange war ich dort?“, waren seine ersten Worte. Die anderen Kinder schauten sich gegenseitig verwundert an. Was meinte er damit? Wie lange war er dort?„Etwa zehn oder zwanzig Sekunden!?“, stellte Tim verblüfft fest. Ben musste sich erst einmal berappeln. Langsam zog er sich hoch und hockte sich hin. Mit seinen Ärmeln trocknete er sich das Gesicht. Immer noch verwirrt stammelte er nur merkwürdige Satzteile hervor: „Zwanzig Sekunden? ...Ganzer Tag! ...Turm? ...die Schiffe auf dem Meer und... das Dorf? ….zwanzig Sekunden? Was ist bloß...?“. Mehr kam aus ihm nicht heraus. Man konnte sehen, dass er das Ganze noch nicht verarbeitet hatte. Wirr blickte er in den Kreis seiner Freunde. „Jetzt mal mit der Ruhe und ganz von vorne“, warf Kiki beruhigend ein und half ihren Freund erst einmal auf die Beine. Anschließend stützte sie ihn bis zum Sofa. Kraftlos legte er sich nieder. Ben schüttelte sich kurz und versuchte durchzuatmen. So langsam hatte er seine Gedanken sortiert. „Ich habe dort auf der anderen Seite einen ganzen Tag zugebracht. Ich kam morgens an und als die Sonne gerade unterging, habt ihr mich zurück geholt.“, erklärte er selbst ein wenig erstaunt. Die drei anderen Kinder schauten sich fragend an. Timmy fand als erster seine Sprache wieder: „Wie, dort drüben vergeht die Zeit viel schneller als bei uns?“ „Nein, eben nicht“, versuchte Ben den anderen begreiflich zu machen: „Ich war stundenlang da drüben, eben einen ganzen Tag lang! Obwohl hier anscheinend nur zwanzig Sekunden vergangen sind“. Man konnte die großen Fragezeichen förmlich über den Köpfen der Kinder schweben sehen. Was soeben geschehen war, konnte sich keiner erklären, sie verstanden nur eines: die Zeit verging hinter dem Lichtstrudel irgendwie anders als die Zeit hier im Turm.„Aber das würde ja heißen,“, stellte Vanni überrascht fest: „Wenn wir hinüber gehen könnten und dort ein oder zwei Wochen bleiben würden, dann würden hier bei uns wohl nur ein paar Stunden vergehen, oder nicht!?“ Ben und Kiki nickten zustimmend, während Timmy sich noch nicht ganz sicher war. Nach längerer Überlegung kam er jedoch zum gleichen Ergebnis. Nachdem sie das Problem mit der Zeit anscheinend gelöst hatten, wuchs die Neugier weiter an. „Sag mal Ben, du warst doch nur mit deinem Kopf auf der anderen Seite, stimmts? Und wo genau bist Du dann überhaupt heraus gekommen?“, wollte Vanessa wissen. Ben, der immer noch über das Geschehene nachdachte, fiel es schwer seine Eindrücke richtig zu beschreiben: „Ihr werdet es nicht glauben, doch dort drüben steht auch ein Turm und er steht direkt an einem Meer. Mein Kopf hing dort aus einer Außenwand heraus. Der Regen peitschte mir mitten ins Gesicht, aber dafür konnte ich alte Segelschiffe auf dem Wasser erkennen. Ich habe das Salz des Meeres geschmeckt und die Luft roch nach frischem Gras. Es war einfach herrlich.“
Gespannt lauschten die Kinder den Erzählungen von Ben und klebten mit ihren Blicken an seinen Lippen. Das Ganze hörte sich unheimlich aufregend und spannend an. „Weiter, los erzähl weiter!“, forderte Kiki ihren Freund auf. Ihr Körper vibrierte vor Spannung und Aufregung. „In der Ferne konnte ich ein Dorf mit einem Hafen erkennen, doch es wirkte richtig alt. Anscheinend gibt es da keinen Strom, denn überall wurden am frühen Abend Fackeln angezündet. Ich würde nur allzu gerne wissen, in welchem Jahr ich dort war.“, stellte Ben für sich fest. Die Kinder setzten sich völlig erschöpft auf den Boden. Was hatten sie da nur für eine Entdeckung gemacht? Keiner sagte einen Ton und ließen alles erst einmal sacken. Ben konnte sich mittlerweile schon wieder auf dem Sofa hinsetzen und blickte umher. Timmy kaute nervös an seinen Fingernägeln, man konnte erkennen das er viel grübelte. Die Mädchen hatten sich mittlerweile Rücken an Rücken hingesetzt. Ihre Gesichter sprachen Bände. Ihre Fassungslosigkeit merkte man ihnen an. Wie sollte es jetzt nur weitergehen? Wie wollten sie weiter mit ihrer Entdeckung umgehen? Ihren Eltern konnten sie auf keinem Fall etwas darüber erzählen. Zum einen hätten sie ja schon eigentlich niemals den Turm betreten dürfen, zum anderen war es wohl auch völlig klar, dass sie dann das Zeitloch das letzte Mal gesehen hätten. Ihre Eltern hätten ihnen sicherlich verboten, je wieder in den Turm zu gehen. Nein, auch wenn es ihnen schwer fiel, über den Lichtstrudel durften sie außerhalb des Turmes auf keinen Fall sprechen. Soviel stand für