„Das ist ja allerhand“, sagt der Rektor, „Sie verlangen eine komplette Abbitte. Überschätzen Sie den Fall nicht doch etwas?“
Keineswegs, meint der Vater, ganz im Gegenteil, er unterschätze ihn sogar noch, aber er sei Realist, und soweit er sehe, würde sich am Schulsystem vorerst nichts ändern lassen. Für sich selbst aber wolle er den größtmöglichen Nutzen aus der Sache ziehen.
„Ich muss zugeben“, sagt der Rektor, „Sie sind durchaus im Vorteil. Die größte Schwierigkeit besteht in der Umsetzung in die Parallelklasse. Wir haben das nach Straßenzügen vorgenommen, dieses Prinzip müsste jetzt durchbrochen werden.“
Der Vater winkt ab.
„Also schön“, sagt der Rektor, „dann wären wir am Ende. - Herr Löwe wollen Sie dann bitte?“
Ob Herr Löwe will, ist nicht ersichtlich, jedenfalls steht er förmlich auf und bittet ihn, Karl, um Verzeihung, hält ihm versöhnend die Hand hin, und sagt: „Nichts für ungut.“
Karl nimmt die Hand nicht.
„Das genügt wohl“, sagt der Vater trocken. Ein Vertrauensverhältnis, wie es nach meiner Vorstellung zwischen Lehrer und Schüler bestehen sollte, ist doch nicht wieder herzustellen. Ich danke Ihnen meine Herren. Den Umständen nach haben Sie mich zufriedengestellt. Ich nehme Karl für acht Tage aus der Schule. Dann werde ich mit Ihrer Erlaubnis wiederkommen und mir den neuen Lehrer ansehen und die Klasse, in die Karl kommt.“
Sie gehen aus dem Rektorzimmer und können nicht mehr hören, was Löwe zu seinem Vorgesetzten sagt: „Ist das ein Aas!“
Der Rektor sieht ihn abweisend an. „Herr Löwe“, sagt er ergrimmt, „ich verspreche Ihnen, das war das letzte Mal, dass ich Ihnen in einer solchen Angelegenheit geholfen habe. Das Schild dort nehmen Sie in Teufels Namen mit.“
Nach acht Tagen Ruhe war die Angelegenheit wirklich erledigt, das Krakeln auf der Schiefertafel machte wieder Freude, der Lehrer zurückhaltend freundlich, hütete sich, den Sohn dieses streitbaren Vaters anzufassen. Es gab bessere Noten. Es ging aufwärts mit Karl. Er fasste Selbstvertrauen.
Das verdankte er dem Vater - er wusste es.
3 Politik ist ein schmutziges Geschäft
Die Fragen eines Achtjährigen zielen auf alles, sie fassen die Summe des Erstaunens über die sinnliche Welt häufig in „Warum“ zusammen. Eben deshalb sind sie nicht leicht zu beantworten. Warum kann ein Auto fahren? Warum fallen Flugzeuge nicht herunter? Warum haben Giraffen lange Hälse? Warum können Tiere nicht sprechen? Die Fragen sind ohne allen Respekt, sie verlangen nach einer handlichen Formel, die Eingang in alles Neuentdeckte verschaffen soll. Die Antworten subsummieren sich mit der vorgefundenen Wirklichkeit, und dies zusammengenommen ergibt eine innere Landschaft, eine geschlossene oder offene Welt, für die Erwachsene leider selten einen Kompass haben, Dann sagen sie: „Welch ein drolliges Kind!“ Der Drang der Achtjährigen, ihre Welt- und Lebenserfahrung in eine eigene Struktur zu bringen, ist erstaunlich. Aus diesen Gründen ist ein Achtjähriger auf Antworten versessen, die ein Stück weitere Welt eröffnen. Am Auto interessiert ihn die Fortbewegung, und er sucht das Geheimnis im Inneren des Spielzeugautos. Dabei geht das Spielzeugauto entzwei und ist nun als Erfahrungsobjekt wertlos geworden.
Was aber steckt in den Köpfen der Erwachsenen? Deren Gedanken setzen sie in Handlung um, die ein Achtjähriger oft nur allzu bedeutend zu spüren bekommt. Daher ist es so wichtig, herauszufinden, was die Erwachsenen denken.
Außerdem wollen sich Kinder nicht einfach mit Tatsachen abfinden. Das steckt schon in dem Fragewort „Warum“. Warum kann man nicht zum Mond fliegen? Wer unvoreingenommen ist, wird sich nicht damit aufhalten, einem Achtjährigen zu erklären, dies scheitere an der Entfernung und die Reisegeschwindigkeit unserer Flugzeuge sei, gemessen an der Fortbewegungsgeschwindigkeit des Lichts, geradezu lächerlich gering. Was soll ein Achtjähriger von einem Erwachsenen halten, der auf seine Frage vielleicht angeregt aufsteht, hin und her wandert und einen Vortrag über kosmische Phänomene hält.
Karls Vater antwortete: „Man wird schon noch zum Mond fliegen.“
In Karl festigte diese simple Antwort die Gewissheit, dass der Mensch alles vermag.
In der Kochstube saß die Familie Kirchhoff und unterhielt sich mit einem Besucher, der die meiste Zeit ihres Gespräches auf und ab ging. Es war ein Kollege, denn der Vater hatte Arbeit gefunden, in einer Druckerei. Die Augen Karls folgten dem hin und her gehenden Mann. Der trug graue Knickerbocker, ein buntes Hemd, eine Windbluse mit Reißverschluss und rauchte hastig Zigaretten. Der Vater nannte ihn Bernhard, die Mutter sagte Herr Schreiter.
"Und Sie meinen, wir könnten diese Wohnung bekommen?“, fragte die Mutter.
Herr Schreiter nickte. „Man muss zuerst mit dem Hauswirt reden, sagte er, „der wird eine Abstandssumme verlangen. Was weiß ich, zwei- oder dreihundert Mark. Du bist lange arbeitslos gewesen, Hermann, vielleicht kann dir der Alte was vorschießen?“
Der Vater arbeitete wieder.
„Sag mal, Hermann, du bist doch Verkäufer, warum bist du es nicht geblieben?" fragte Herr Schreiter. „Diese dreckige Arbeit in unserer Bude macht doch keiner, der es nicht nötig hat."
Die Mutter sagt: „Es ist reine Neugier - was ihn die schon gekostet hat. Nirgends hält er lange aus, überall passt ihm was nicht, mal hat er Zank mit den Chefs, oder es passiert sonst was.“
Karl spitzte die Ohren. In der „Friedlichen Einkehr" gab es keinen Zank mit dem Chef. Chef war ein für allemal der Opa, der sich auf nichts einließ. Wer sich seinen Anordnungen nicht fügte, dem gab er die Papiere und das Restgehalt, hemdsärmelig, die Zigarre im Munde. Schon möglich, dass der Vater nicht gut auskam mit den Chefs, weil er ein Streithammel war, Dies hatte die Mutter neulich ausdrücklich gesagt.
„Es kommt alles zusammen“, sagte der Vater. „Es war eben die erste Stelle, die mir seit Jahren angeboten wurde.“
Herr Schreiter seufzte. „Na ja, hättest eben noch etwas warten müssen, bis aus dem Silberstreifen am Horizont ein blanker Himmel geworden wäre.“
Vater winkte ab. „Die Silberstreifen kenne ich noch von Kaisers her, herrliche Zeiten, dann kam vierzehn, Silberstreifen, was jetzt kommt, das möchte ich gern wissen."
„Nazis“, sagte Herr Schreiter.
Nazis sind Leute mit Topfmütze und Lederkoppel, mit Marschstiefel und Lastkraftwagen, sie fallen durch lautes Singen auf. Deutschland erwache - wir leben in Deutschland, wir sind Deutsche, deutsche Frauen, deutsche Treue, deutscher Wein... Karl konnte schon ganz gut lesen. Deutsche Reichsbahn, Deutscher Verband der… Am merkwürdigsten war die Entdeckung eines Gerichtes auf der Speisekarte der „Friedlichen Einkehr“: Deutsches Beefsteak. Der Opa hatte ihn gewarnt: „Friss doch den Dreck nicht, lass dir ein richtiges Steak geben.“ Deutsches Beefsteak war Boulette, richtiges gebratenes Rindfleisch bekam nur, wer ein einfaches Steak wollte. Man musste schon vorsichtig sein.
„Abwirtschaften lassen!", sagte der Vater eben gebieterisch, als hätte er etwas anzuordnen, und als würde irgendjemand davon beeindruckt.
„Na gut", sagte Herr Schreiter, „wollen hoffen, dass uns das erspart bleibt. Ich möchte nicht dabei sein, wenn sich die Nazis abwirtschaften - Da du im Augenblick aber dieser These nachläufst, wollen wir es lassen. Ich wollte eigentlich mit dir noch über etwas anderes reden. Nämlich, da ein Drucker ausscheidet und der Alte wahrscheinlich keinen anderen einstellen wird, wäre diese Stelle frei. Wie wär es, wenn ich dich anlernen würde? Das ist was anderes als die Hilfsarbeit. Der Meister hat es angeregt, ich hab ihm so was vorgeschlagen, verdienst auch sicher mehr. Da bringen wir schon was heraus.“
Der Vater sollte Drucker werden. Leute, die Zeitungen druckten, wurden nie arbeitslos, wie es der Opa kürzlich ausgedrückt hatte: Ob die Zeiten gut oder beschissen sind,