Viktoria schien irgendetwas zwischen interessiert und resigniert zu sein. In die Ferne starrend, sagte sie mit tonloser Stimme:
„Mein Eindruck in meinem alten Leben war ganz einfach der, dass Angestellt-Sein bedeutet, mit dem Arbeitsplatz verheiratet zu sein. Dabei ist der Angestellte oft Werkzeug, nicht Partner. Werkzeug wird ersetzt oder beseitigt, wenn es nicht mehr funktioniert oder gebraucht wird. Vielen macht das Angst. Was dazu führt, dass sie sich noch mehr abmühen am Arbeitsplatz, noch besser, noch schneller, noch vermeintlich unverzichtbarer sein wollen, um bloß nicht gekündigt zu werden eines Tages. Warum? Weil sie keine Alternative haben. Auch mir hat das Angst gemacht, und die einzige Möglichkeit, diesem Strudel und dieser Festgefahrenheit zu entkommen, habe ich darin gesehen, diesem alten Leben vollständig zu entfliehen.“
Es war nicht nur Resignation, sondern auch eine abgrundtiefe Traurigkeit in Viktorias Stimme. Die machte mich stutzig. In meiner Nachfrage formulierte ich das aber noch nicht:
„Kann es sein, dass aus deinen Worten auch ein bisschen Verbitterung herauszuhören ist?“
Viktoria warf mir von der Seite einen stechend scharfen, aber auch neugierigen Blick zu. Letzteres bekräftigte mich darin, fortzufahren:
„Ich meine, dass Veränderung in einem jeden selbst anfängt. Wer also mit irgendeiner Situation in seinem Leben, auch der beruflichen, unglücklich sein sollte, der kann an sich arbeiten, um die Situation zu verändern - anstatt eine Art von Schuld dem Umfeld oder gar dem System, den Arbeitsstrukturen, in die Schuhe zu schieben. So vieles ist möglich, wenn man beginnt es zu denken, und irgendwann auch auszusprechen. Und indem ich genau das getan habe, hat sich für mich herausgestellt, dass beides geht! Angestellt sein, und nebenbei ein weiteres Leben, in meinem Fall an der Küste, zu leben.“
„Ich muss zugeben, es hat etwas Einleuchtendes, was Du sagst“, schmunzelte Viktoria. „Aber bestimmt gehört auch sehr viel Kraft und Mut dazu. Wahrscheinlich beginnt die Schwierigkeit für die Menschen schon damit, überhaupt herauszufinden, was sie wirklich gerne noch erfüllt hätten in ihrem Leben. Das ist ja der Schritt davor, überhaupt etwas in die Realität umzusetzen ...“
Viktoria zögerte kurz, als wüsste sie nicht, ob sie noch etwas hinzufügen sollte oder nicht. Dann sprach sie weiter:
„… und möglicherweise stecken viele so sehr fest in ihrem Berufsleben, dass sie darüber gar keine Zeit haben, zu entdecken, was sie noch aus sich selbst heraus ausleben möchten, und wo ihre persönlichen Bedürfnisse liegen.“
Mir war nicht mehr klar, ob Viktoria über andere sprach, oder über sich, und mir dabei etwas Entscheidendes verschwieg. Sie wirkte zwar wieder etwas lebhafter inzwischen, aber auch vom Thema entfernt. Ich wollte es mit einer letzten Äußerung abschließen:
„Was dann herauskommen kann, wenn jemand sich die Zeit nimmt, die eigenen Bedürfnisse freizulegen, das siehst du an mir. Womit ich auf mein Pendeln zurückkomme, das du ja zu Beginn unseres Gespräches in Frage gestellt hast. Viktoria, weißt du, mein Pendeln zwischen zwei Lebensräumen, das ist meine Lösung! Es ist nicht deine Lösung, deshalb fällt es dir vielleicht schwer, sie zu verstehen. Aber es ist meine Lösung, und sieh mich an: wirke ich unglücklich mit meinem Leben? Wirke ich, als wäre mir mein Stadtleben zuwider?“
Viktoria schwieg einige Minuten lang. Sah mich an, sah auf die See. Lächelte, und gab dann zu:
„Nein, meine Liebe, ich sehe es ja auch. Du wirkst in der Tat wie eine, die glücklich ist, und ihren Weg auf ihre Art geht. Ich scheine von uns beiden der radikalere Typ zu sein. Bei mir muss alles immer ganz oder gar nicht sein. Ich könnte mir ein Pendeln zwischen Stadt und Land nicht vorstellen. Vielleicht ist das eine Schwäche von mir, die ich bislang für eine ausgeprägte Entschlusskraft hielt: von mir zu verlangen, mich für Schwarz oder Weiß zu entscheiden. Vielleicht übersehe ich dabei die Grautöne dazwischen … genau diese Grautöne, von denen du anfangs sprachst, diese Grautöne, die die Vielfältigkeit zwischen Schwarz und Weiß bedeuten.“
Viktorias Stimme war im Verlauf dieser letzten Sätze ganz ruhig und leise geworden, fast so, als würde sie ein wenig in sich zusammensinken.
Ich war ein bisschen darüber erschrocken, war doch Viktoria immer die Starke, Entschlossene für mich, diejenige, für die alles klar ist, alles stimmig, alles authentisch.
Viktoria, die Vagabundin, die nur noch macht was sie will - diese Viktoria hat womöglich auch hin und wieder Zweifel an dem was sie tut?
Oder verschwieg sie mir etwas? Gab es womöglich noch einen anderen Grund, der sie ihr Leben in Hamburg abbrechen ließ?
Ich wusste in diesem Moment, der nun schon fast ein Jahr her ist, nichts, was ich darauf hätte sagen können. Wahrscheinlich hatten wir beide das Gefühl, in diesem Gespräch an sehr viel gerüttelt zu haben. Und für jede von uns steckte hinter dieser umfangreichen Thematik ein riesiger Schatz an eigenen Lebenserinnerungen, die da hochkommen, und erinnern lassen, warum an so mancher Weggabelung dieser oder jener Schritt gegangen, oder eben nicht gegangen wurde.
So tief war ich in die Erinnerung an dieses Gespräch am abendlichen Strand geraten, dass ich fast erschrecke, als ich wieder vor meiner Haustür, und zwar in Berlin, stehe. Völlig gedankenversunken muss ich den Rückweg wie automatisch gelaufen sein.
Ich öffne die Tür, und betrete meine so vertraute Wohnung. Es ist mein Zuhause. Eines meiner beiden Zuhauses.
3. Kai. Anfang März.
Es ist Anfang März. Ich sitze tatsächlich in der Nord-Ostsee-Bahn Richtung Husum, mit Ziel St. Peter-Ording. Einfache Fahrt. Einfache Fahrt in die Pampa. Ich.
Ich? Der, der doch immer nur auf Abenteuer aus war all die letzten Jahre? Was mache ich hier?
Die Alternative zum Abenteuer suchen. Es gibt sie doch, oder? Irgendwie leben doch all diese anderen Menschen auch, die nicht so leben wie ich es getan habe die letzten Jahre?
Es war egal, wo ich war, überall ging es mir um das Abenteuer, um den Kick, um das Besondere im Leben. Ein Besonderes musste sich an das andere reihen, sonst wurde mir langweilig. Das Geld dafür habe ich mir mit unterschiedlichsten Jobs in Berlin verdient. Zuletzt stand ich Tag für Tag in einer Videothek.
„Nur abgeben? Das macht dann bitte zwei Euro.“
Es hat so genervt. Ich könnte viel mehr, das wurde mir in den letzten Monaten klar. Ich habe bislang nicht darüber nachgedacht, was ich mehr könnte. Ich wollte nur surfen, und irgendwie und schnellstmöglich an das Geld kommen, das ich dafür brauche. Für so etwas wie eine Ausbildung, oder ein Studium, für so etwas was geregelter Lebenslauf genannt wird, hatte ich weder Zeit noch Gedanken.
Dieser geregelte Lebenslauf hat mich nie gereizt. Im Gegenteil, er hat mich abgestoßen. Denn was ich an denen sah, die ihn lebten, das wollte ich selbst nicht leben. Vielleicht lag das daran, dass ich in einer Kleinstadt aufgewachsen bin. Dort ist alles viel enger als in der Großstadt, es fehlt die Anonymität, das nicht-beobachtet-werden, das tun-können-was-ich-will.
In dieser Kleinstadt war man wer, wenn man bestimmte Dinge hatte. Und diese Dinge hatten wiederum mit Geld zu tun, viel Geld, das man verdient, wenn man diesem geregelten Lebenslauf nachgeht. Dann hatte man ein eigenes Haus und ein eigenes Auto und fuhr mehrmals im Jahr in den Urlaub.
Aber lebte man so auch sein eigenes Leben?
So jedenfalls war meine Sicht auf meine kleine Welt damals. Und diese Sicht hat mich veranlasst, mein ganz anderes Leben auszuprobieren. Ich wollte eine Alternative dazu leben, eine selbstbestimmte Biografie entwickeln. Und ich weiß, dass ich den Mut dazu habe. Aber so, wie es jetzt ist, kann es dennoch nicht weitergehen.
Mein