Die kleine Posaune der Freiheit. Ludwig Witzani. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Witzani
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783737585118
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verblichenen Tapeten an den Wänden, einem Waschbecken und zwei Schlafpritschen, die verdächtig knirschten, als wir unsere Rucksack ablegten. Die Türe hing so schief in der Wand, dass ein einziger Tritt genügt hätte, um sie aus den Angeln fliegen zu lassen. Dafür konnten wir von dem kleinen Zimmerfenster aus den Aufmarsch der Prostituierten beobachten, die zu allen Tageszeiten den Reisenden, die den Bahnhof von Riga verließen, ihre Angebote zuriefen, um bei Interesse mit ihrem Kunden sofort im Eingang des „Aurora“ zu verschwinden.

       Schon in der ersten Nacht gab es im Hotel ein Riesengeschrei. Ein Freier und eine Prostituierte waren sich über Dienstleistungen und Preise in die Haare geraten. Die Türen knallten, die Fäuste flogen, und mit großem Gebrüll griffen die örtlichen Zuhälter ins Geschehen ein. Dann wurde wieder alles ruhig. Ich blickte aus dem Fenster und sah den nächtlichen Bahnhofsvorplatz im Laternenlicht. Die Straßenstricher rüsteten zu ihrer letzten Schicht, ich kroch wieder ins Bett und schlief gleich ein.

       Am nächsten Tag war das Wetter wie ausgewechselt. Ein makelloser Himmel wölbte sich wie ein blaues Zirkuszelt über der größten Stadt des Baltikums. Auch das Personal vor dem „Aurora“ hatte gewechselt, nun waren Marktstände aufgebaut, auf denen Obst und Gemüse, aber auch Kehrbleche, Besen und Regenjacken zum Verkauf standen. Unter den Angeboten einer improvisierten Garküche konnten wir unter Leber, Schnitzel, Frikadellen mit kaltem Gemüse, fetten Würsten und Innereien wählen, die allesamt ebenso scharf gewürzt waren wie der baltische Alltag in diesem Bahnhofsviertel. Dass wir als Touristen am Rande der Vorstadt an einer Garküche aßen, machte uns in den Augen der Bedienung allerdings wenig Ehre. Entweder waren wir geizig, weil wir uns nichts Besseres leisteten, oder wir waren tatsächlich die armen Teufel, die sie in uns zu entdecken glaubten. Auch Stefan war mürrisch: „Herrje, wo sind denn all die wunderschönen Frauen, von denen mir mein Onkel erzählt hat? Die werden doch nicht alle schon im Westen sein?“

       Ganz so schlimm war es nicht. Als wir uns der Innenstadt näherten, ein wenig die Boulevards entlang flanierten und auf den Bänken am Ufer der Düna die Menschen beobachteten, tauchten sie endlich auf: die schönen lettischen Frauen, hochgewachsen, schmalhüftig, mit ihren herrlich hohen Wangenknochen - doch leider fast niemals allein, sondern von Männern, Freunden oder Verehrern begleitet. Zu Stefans Missvergnügen mussten wir feststellen, dass es sich bei vielen dieser Begleiter nicht um Einheimische, sondern um Touristen handelte, um Gäste aus dem Westen, die sich genau wie Stefan auf Brautschau im Osten befanden. Diese ungleichen Paare traf man in der ganzen Stadt, sie saßen in den Parks, in den Restaurants oder spazierten die Straßen entlang, mal liefen sie in einem halben Meter Sicherheitsabstand nebeneinander her, mal ergriffen sie sich dann und wann scheu an den Händen. Ein heikles Spiel wurde gespielt, dessen Antrieb die Hoffnung war, die Hoffnung des Westlers, dass ihn seine Brieftasche aus der Einsamkeit erlösen möge und die Hoffnung der jungen Frauen, dass ihnen einer dieser Männer den Weg in ein besseres Leben ebnen würde. Anmut und Not, Energie und Mut war in den Augen der Frauen zu lesen, eine Kombination, aus der alles entstehen konnte: das Glück oder der Untergang. Diese Frauen glichen Spielerinnen in einem makabren Roulette, in dem alles darauf ankam, auf den richtigen Mann zu setzen. Es gab Paare bei denen es nicht ausgeschlossen schien, dass diese Kalkulation aufgehen könnte, bei anderen aber kam es mir so vor, als gingen die Elbenfrauen aus dem "Herrn der Ringe" mit jenen Uruk-hais spazieren, die der böse Zauberer Saruman zur Plage der Welt erschaffen hatte.

       Inzwischen hatten wir die Peripherie verlassen und die Innenstadt erreicht. Hier hatte die Stadt die Erinnerung an die bleierne Zeit des Bolschewismus abgestreift wie eine falsche Haut. In den großen Parks flanierten die Menschen, Straßencafés hatten geöffnet, Mode wurde ausgeführt, und auf großen Werbeflächen wurde so selbstverständlich für Luxuswaren geworben, als gehörte Lettland schon seit eh und je zur Internationale der Premiummärkte. Der "Eindruck unendlicher Eintönigkeit", den noch Henning Mankell vor einem Dutzend Jahren in seinem Roman "Hunde von Riga" beschworen hatte, war einer bunten Vielfalt gewichen, die sich von ähnlichen Bildern aus Avignon, Florenz oder Amsterdam kaum noch unterschied. Aber wo war der Muff der Sowjetzeit geblieben? War denn alles nur ein böser Spuk gewesen? Nur noch das eine oder andere klobige Bolschewikendenkmal erinnerte an die bleierne Breschnewzeit - mit ihren gefühllosen Gesichtern wirken die steinernen Schlagetots neben Straßenkapellen und Flohmärkten wie Karikaturen einer untergegangen Epoche. Sogar die Straßenbahnschaffner hatten die obrigkeitlichen Attitüde abgelegt, die Polizisten gaben sich freundlich, und die Taxifahrer waren mit ihren vielfach gestaffelten Einheimischen- und Touristentarifen ohnehin längst in der Marktwirtschaft angekommen.

       Soweit der erste Blick auf die große Stadt an der Düna, deren Besucherzahlen sich seit dem Eintritt Lettlands in die Europäische Union vervielfacht haben. Soweit auch der Tenor der Reiseführer, die den Eindruck vermittelten, das ganze Land mit seiner Hauptstadt Riga an der Spitze befinde sich seit dem Beitritt Lettlands zur EU in einem stürmischen Aufbruch nach Europa. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Denn buchstäblich die andere Hälfte der Wahrheit, ziemlich genau die Hälfte der 850.000 Einwohner Rigas, war nicht lettisch, sondern russisch und damit von dem nationalen Jubel, der die Rückkehr Lettland nach Europa begleitet hatte, gänzlich ausgeschlossen. Die russische Armee war schon lange abgezogen, doch die russischen Einwohner Lettlands waren noch immer da - nicht als Freunde oder Gäste, sondern als Bürger eines Staates, den sie nicht gewollt hatten und der mit ihnen selbst nichts anderes anzufangen wusste, als sie für jedweden Missstand verantwortlich zu machen. Das Bruttoinlandsprodukt hatte sich nicht so positiv entwickelt wie erhofft? Die geplatzte Immobilienblase hatte unzählige Existenzen vernichtet? Die Kriminalitätsrate war schon wieder gestiegen? Wer lag betrunken auf den Schienen, so dass die Straßenbahn nicht weiterfahren konnte? So viele Fragen, doch die Antwort klang immer gleich in den Ohren: die Russen sind an allem schuld.

      Selbst bei der Frage, wer die große St. Peter Kirche im Herzen von Riga zusammengeschossen hatte, tendierte der normale Lette zur Antwort: das waren die Russen, auch wenn die meisten insgeheim wussten, dass die Deutschen während ihrer Rückzugsgefechte im Zweiten Weltkrieg einen Großteil der Innenstadt und damit auch St. Peter, die höchste Kirche des Landes, in Schutt und Asche gelegt hatten. Inzwischen war St. Peter gottlob längst wieder aufgebaut, und ihr über einhundert Meter hoher Turm konkurrierte mit dem Glockenturm der Olafskirche in Tallinn um den Titel des höchsten baltischen Gotteshauses.

       In vierundsiebzig Metern Höhe, auf der Aussichtsplattform von St. Peter ergab sich schließlich jener distanzierte Blick auf Riga, bei dem alles Lettische, Russische, Deutsche, Schwedische, Polnische oder wie immer auch die Nationen hießen, die am Stadtbild Rigas mitgewirkt hatten, in einem Gesamteindruck verschmolz. Es war der Gesamteindruck eines flachen Landes, durch das ein breiter Fluss seiner Mündung in die Ostsee entgegen floss und an dessen Ufern seit dem 13. Jahrhundert eine Stadt existierte, in der bis auf wenige Jahrzehnte acht Jahrhunderte lang immer nur die Fremden den Takt angegeben hatten. Wie ein ausgefranster Häuserteppich erstreckte sich die Stadt in der Nähe des Meeres, immer flacher zu ihren Rändern hin, als hätte der unablässig wehende Wind die Peripherien der Stadt glatt geschmirgelt. Es war ein nordischer, ein skandinavischer Wind, der an diesem Tag über die Ebenen fegte und den Himmel reinigte, es war ein Wind, der um Kirchtürme und Hochhäuser brauste, der in wilden Turbulenzen den großen Fernsehturm im Westen der Stadt umwehte und die Ausflugsschiffe auf der Düna tanzen ließ.

       Im Zentrum dieser windigen Welt, gleich unterhalb der großen Kirche befand sich die Altstadt von Riga, das historische Zentrum, in dem der deutsche Bischof Albert von Buxtehude im Jahre 1211 den ersten Dom der Stadt errichten ließ. Das Rathaus, das Schwärzhäuptergildenhaus und die Roland-Statue überragten einen Platz voller schwerterschwingender Ritter mit Lanzen, Kreuzen, Drachen und allegorischen Fabelwesen, während immer neue Touristengruppen aus den Zentren des alten Europas darüber staunten, sich zweitausend Kilometer von daheim entfernt einer Kopie norddeutscher Marktplätze gegenüber zu sehen. Eine Kopie ist es sogar im buchstäblichen Sinne - denn der gesamte Marktplatz samt Kirche und Uferbebauung war am Ende des Zweiten Weltkrieges von der abrückenden deutschen Armee zerstört worden. Nun war sie als ein urbanes Fake ebenso detailgetreu und makellos wiedererstanden wie die Altstadt von Warschau.

       Am Ende einer wechselvollen Geschichte mit deutschen, polnischen und schwedischen Herren fiel Lettland im 18. Jahrhundert an das Zarenreich, und es dauerte nicht lange, da verwandelte sich Riga in eine Miniaturausgabe