Nach drei Tagen am Ordinger Strandabschnitt zieht es mich heute zu einem anderen: dem Böhler Strand. Er ist ruhiger, und menschenleerer.
Als ich ankomme, ist das Wasser gerade dabei, sich zurückzuziehen, und Platz zu machen für die Ebbe. Es hinterlässt dann das, was vorher noch Meeresgrund war: einen welligen Sandboden, der hart ist vom Wasser, das er noch in sich trägt, und in dem die Wattwürmer ihre Spaghettihäufchen hinterlassen. Kleine Krebse tummeln sich in Pfützen, in denen sich die Sonne spiegelt.
Das Wasser hat ein paar Reste dagelassen: Treibgut, Hinterlassenschaften menschlicher Umtriebigkeit am und im Meer. Ich mache Fotos von den skulpturhaften Gebilden. Eine Kiste aus Holland, zu erkennen an dem Aufdruck in Niederländisch, umwickelt von Algen, in denen wiederum Muscheln hängen geblieben sind. Zwei unterschiedliche Schuhe, die jemand vor mir nebeneinander gestellt hat, als seien sie ein Paar. Sie müssen eine lange Zeit im Salzwasser verbracht haben; ihr Leder ist löchrig und überwuchert von etwas weißem, Pockenartigem. Daneben Reste von Fischernetzen, in denen sich Algen, Federn, Äste und Muscheln verfangen haben. Die aufgedröselten Enden der Schnüre wirken wie greisenhafte Haare. Ich mag das Bunte der Netze, meist sind sie mehrfarbig, orange und türkis und grün und blau. Mit dieser Farbenpracht stechen sie aus dem sanften Beige-Grau des Watts heraus.
Die Formen des Treibguts heben sich von der ebenen Fläche des Watts ab. Außer den Prielen gibt es sonst nichts, was Orientierung oder gar Wegweisung bieten könnte. Vielleicht ist es das, was mich hier so fasziniert: das nicht-vorhanden-Sein vorgegebener Wege. Das Dasein im Watt lässt jeden Schritt zu, jede Gerade, jede Kurve. Weil es keine Wege hat, die einem vorgeben, wo es lang geht. Alles ist möglich hier, jede Richtung, jede Gangart.
Als würde es mir mitteilen wollen: deine Möglichkeiten sind grenzenlos.
Sind sie das, wirklich? Gilt das auch für meinen Lebensentwurf, und mögliche Veränderungen? Die Vorstellung macht mir Angst. Denn vor der Wahrnehmung von Möglichkeiten steht die Entscheidung dafür. Vielleicht reicht ja zunächst die Wahrnehmung dessen, dass sie da sind, die vielen Möglichkeiten, völlig aus. Vielleicht ist es das, was mir der Strand heute mitteilen möchte. Und wenn ich einfach stehen bleibe, und mich am Anblick der Möglichkeiten erfreue.
Vielleicht reicht das schon aus, zum glücklich und zufrieden sein.
Am Abend ist Dorffest, inmitten des friedlichen, fast puppenstubenhaften Reetdachhausidylls. Die Hauptstraße durch den Ortsteil Dorf, die sonst recht früh am Abend ruhig wird, ist nun bevölkert von Ständen, Buden und Menschen. Fühle mich wie eine Voyeurin, wenn ich allein durch die Menge von Familien und Paaren gehe. Eine Voyeurin der Zwischenmenschlichkeiten, die sich da um mich herum abspielen: zärtliche und aggressive, liebevolle und streitende, harmonische und meinungsverschiedene Zwischenmenschlichkeiten. Aus all dem bin ich außen vor, und kann beobachten, wenn ich mag, oder Augen und Ohren abwenden, wenn ich nicht mag.
Bevor ich diese Reise antrat, fragte mich ein Bekannter entsetzt, wie ich denn zehn Tage allein sein wolle, freiwillig? Das müsse doch furchtbar sein, und langweilig.
„Warum?“ habe ich ihn gefragt.
„Weil du dann doch zu niemandem sagen kannst: sieh mal, der schöne Sonnenuntergang!“
Und in diesem Moment wurden ihm seine Worte selbst bewusst, einschließlich ihrer Lächerlichkeit. Und wir wussten beide, dass der Sonnenuntergang immer schön ist: wenn ich ihn allein sehe, oder wenn ich ihn mit jemandem zusammen sehe. Allein sehe ich ihn intensiver. Vielleicht ist er dann sogar schöner.
Wenn ich diese Zwischenmenschlichkeiten wahrnehme auf dem Stadtfest, dann vermisse ich nichts, im Gegenteil: bin froh, nicht Bestandteil irgendeines dieser menschlichen Knäuel zu sein. Sondern mit mir hier, und mit mir kann ich gehen, wohin ich will, und bleiben, solange ich will.
Ein kräftiger Beat kommt aus einem Hof. Ein Junge und ein Mädchen, um die 18 vielleicht, sind hinter ihren riesigen Schlagzeugen zu erkennen, die sie leidenschaftlich mit ihren Stöcken bearbeiten. Der Rhythmus ergreift mich, und die Klanggebilde, die aus ihm entstehen. Hole mir ein Bier, setze mich auf den Rasen am Rand des Hofes, und höre zu.
Die Situation erinnert mich an improvisierte Straßenmusiker-Szenen in Berlin. Plötzlich verschwimmen Berlinleben und Nordseeleben, vermengen sich. Neulich in der Bar der Surfschule ging es mir auch so. Als würden mein Stadtleben und mein Wunsch nach Nordseeleben in diesen Momenten verschmelzen zu einer friedlichen Einheit. Darin empfinde nicht mehr ich mich fremd inmitten dieser Touristen, sondern mich als echt, und die Touristen fremd. Es bestärkt. Mich an diesem Ort.
Zunehmend fühle ich mich stimmig hier. Passend, authentisch. Mein Wunsch nach einem neuen Tattoo fällt mir wieder ein. Die kommen immer dann, die Tattoo-Ideen, wenn es mir besonders gut geht. Und wenn etwas Neues passiert ist in meinem Leben, das zu diesem Gutgehen beiträgt. So wie dieser Urlaub. Ich werde mal einen Entwurf skizzieren. Bald mal, im Strandkorb. Irgendwann.
Tag 6
Fahre nach Husum heute. Mit der Bahn quer durch die Halbinsel Eiderstedt ein Stück des Weges zurück, auf dem ich vor wenigen Tagen angekommen bin. Durch flaches Land, voller Schafe, Kühe, Gänse. Hasen hoppeln dazwischen durch.
Nach einer knappen Stunde Fahrt dann taucht, fast überraschend, Husum auf, das sich heraushebt aus der einsamen Weite, und so wie eine Großstadt wirkt. Wirkt, aber nur. Es ist viel besser.
Husum verzaubert mich, mit seinem weltoffenen Charme. So klein, und doch so selbstbewusst. Fühle mich wohl und lasse mich treiben. Über Kopfsteinpflaster und Marktplatz, entlang friesischer Bauweise, heimeliger Häuser. Durch kleine Läden, die Fußgängerzone, und am Hafen entlang. Herzallerliebst.
Ab wann empfindet ein Großstädter Stadt? Für mich, hier, in dieser Zeit, ist es genau das richtige. Es zeigt mir, wie nah sich Stadt- und Landleben auch sein können. In Berlin fühle ich mich so abgekapselt. Isoliert in der Stadt, verdammt zum Stadtleben. Dabei ist die Mauer doch schon fast zwanzig Jahre weg. Manchmal habe ich es mit Ausflügen ins Berliner Umland versucht. Habe versucht, dort einen Tag auf dem Land zu erleben, der das ausgleichen könnte, was mir zu viel ist an Stadt. Nie hat es mir auf diesen Ausflügen gefallen. Ich konnte keinen Bezug zum Berliner Umland entwickeln, nichts lieb gewinnen an der Landschaft dort. Fühlte mich immer fremd. Ob es daran liegt, dass die Nordsee nicht in der Nähe ist? Das hier fühlt sich genau richtig an: ein bisschen Husumer Stadtluft schnuppern, und dabei wissen, dass das Zuhause direkt an der Küste auf mich wartet.
Zu dem ich abends zurückfahre, durch die Landschaft, deren Anblick ich nach so kurzer Zeit schon so sehr liebgewonnen habe.
Sie mich auch?
Tag 7
Habe tatsächlich neun Stunden lang geschlafen, wie ein Stein. Wirres Zeug geträumt dabei. Von Männern, die einmal ein Rolle gespielt haben in meinem Leben. Oder es noch tun. Oder es noch gerne tun würden, oder ich noch gerne hätte, dass sie es täten. Wirres Traumzeug eben. Träumen entwirrt aber auch.
Es regnet, und ich fühle mich schlapp. Schlappes Ich drinnen, und Regen draußen, das passt: zu dem Bedürfnis, einfach nur zuhause zu sein an diesem Vormittag. Liegen bleiben, und diesen nächtlichen Traum von vergangenen Männergeschichten aus der Erinnerung tropfen lassen, bis sie leer ist und rein.
In Husum gestern habe ich eine Postkarte gekauft mit dem Spruch ‚meine Freundschaft endet nicht an deinen Grenzen‘. Sie hat mich erinnert an die letzte sich anbahnende Freundschaft, zwischen mir und einem so was von lieben Kerl aus Berlin. Wir hätten an dem einen Abend vielleicht doch nicht Rotwein trinken sollen. Oder zumindest nicht bei ihm zuhause, auf dem Sofa. Seit diesem Abend scheint er sich vor der Freundschaft zu scheuen.
Ich nicht. Ich wehre mich gegen seine Scheu.
Auch wenn man will, darf man das denn? Freundschaften händeln als seien es innigere und intensivere, als der andere will? Ich bin gerne mit Männern