Mittlerweile hatten sie eine Höhe erreicht, in der es merklich kühler geworden war und wo ein frischer Wind wehte. Hinter der Hochebene erhoben sich die kahlen Felsen der Berge. Oben auf den Gipfeln war der erste Schnee gefallen, aber von diesem Wintereinbruch war unten am See noch nichts zu merken.
„Also gut“, meinte Meneas. „Bis hierhin haben wir es also geschafft. Jetzt müssen wir uns nur noch einen geeigneten Lagerplatz suchen, von dem wir in den nächsten Tagen unsere Suche durchführen können.“
Schon auf dem ersten Blick fielen ihnen einige Stellen auf, wo sie ihre Zelte aufstellen konnten, aber Idomanê hatte einen besseren Vorschlag. Sie zeigte nach links auf das seitliche Ufer.
„Dort hinten steht ein Haus. Lasst uns nachsehen, ob es bewohnt ist. Falls es leer steht, können wir es uns vielleicht darin bequem machen.“
Auch einige andere hatten es schon gesehen, aber Idomanê war ihnen mit ihrem Vorschlag zuvorgekommen.
Sie erkannten schon bald, dass es leer stand, denn das Dach aus grauen Schieferplatten zeigte einige Schäden und die Tür stand offen. In einem Fenster hing ein Lumpen, der sich im Abendwind bewegte.
„Hier waren Reiter“, sagte Durhad, als sie kurz vor der Hütte waren. „Und es ist noch nicht lange her.“
Er hatte Recht. So wie es aussah, waren jene einen anderen Weg heraufgekommen als sie, denn die Fährten kamen von rechts über die Hochebene auf sie zu und wandten sich dann an der Hütte vorbei in die Richtung der Berge. Vor der Hütte war die Ordnung ein wenig durcheinander geraten. Offensichtlich hatten die Reiter angehalten und waren umeinander herumgeritten, bevor sie weiterzogen. Aber abgestiegen waren sie nicht, denn es gab keine Stiefelabdrücke.
„Es sieht nicht so aus, als hätten sie sich für die Hütte interessiert“, sagte Meneas. „Jedenfalls haben sie sie nicht untersucht.“
Sie beachteten die Spuren nicht weiter.
Die Hütte war unübersehbar verlassen. Im Rest des Tageslichtes sahen sie die Unordnung im Inneren. Es gab nur einen Raum. Er musste sehr einfach eingerichtet gewesen sein, denn ein grob gearbeiteter Tisch und zwei dazu passende Stühle waren die einzigen Möbel. Im hinteren Teil fanden sie an den gegenüberliegenden Seiten je einen Haufen aufgewühlter Lumpen, die man mit einiger Phantasie vielleicht für Unterlagen von Schlafstätten halten konnte. Tjerulf stocherte mit seinem Schwert darin herum, aber außer den Lumpen gab es nichts.
„Knochen?“, fragte Anuim.
Tjerulf lachte.
„Sei unbesorgt. Gestorben scheint hier keiner zu sein. Und keine Geister haben hier ihre Kleider abgelegt, wenn dich das beruhigt.“
„Das tut es.“
Die Hütte hatte außer an der Seite mit der Tür je ein Fenster, die einst mit Säcken oder etwas Ähnlichem verhangen waren, wie das einzige Fenster, vor dem noch einpaar Fetzen hingen, vermuten ließ. Bei den anderen waren sie herabgefallen, vielleicht in Stürmen zerrissen worden. Über allem lag eine Staubschicht.
„Wer hier wohl gelebt hat?“, fragte Solvyn und sah sich um.
„Es scheinen zwei gewesen zu sein, wenn die Betten, oder das, was von ihnen übriggeblieben ist, darauf schließen lassen“, meinte Erest. „Aber sie haben die Hütte vor langer Zeit verlassen, wie es aussieht.“
„Wir sollten hier bleiben“, schlug Meneas vor. „Es ist kein sehr schöner Ort, aber er bietet mehr Schutz vor der nächtlichen Kälte und dem Wind als unsere Zelte. Die Fenster können wir zuhängen und morgen vielleicht das Dach notdürftig ausbessern. Die Schindeln liegen hier noch herum. Außerdem haben wir hier einen Kamin.“
Keinem von ihnen gefiel die Bude, aber Meneas hatte Recht. Und ihre Entscheidung wurde dadurch erleichtert, dass der Luftzug durch die Fenster im Laufe der Jahre jeglichen unangenehmen Geruch, der in der Hütte einst geherrscht haben mochte, vertrieben hatte. Selbst die Lumpen, in der trockenen Bergluft gut erhalten, waren noch geeignet, als zweckmäßige, wenn auch nicht sehr schmuckvolle Gardinen herzuhalten. Die Möbel taugten aber nichts mehr und landeten schließlich im Feuer des Kamins.
In der Klarheit der Gebirgsluft überspannte sie ein überwältigender Sternenhimmel, der jedoch bald unter dem Licht der Monde verblasste.
„Oh seht!“, sagte Solvyn überrascht und zeigte auf einen Berggipfel. „Was ist das?“
Außer Solvyn hatte in diesem Augenblick aber niemand in die Richtung geblickt und konnte daher das kurze Aufblinken am Gipfel nicht erkennen.
„Ja, es ist wieder weg“, sagte sie. „Ein Funkeln, wie ein heller Stern. Sonderbar.“
„Vielleicht war es einer“, meinte Erest. „Ein letztes Aufleuchten, bevor er hinter dem Gipfel versank.“
„So schnell? Aber vielleicht hast du Recht. Ich übernehme die erste Wache. Der Himmel ist so schön.“
Sie teilte sie sich mit Freno. Die anderen gingen zurück in die Hütte.
Solvyn hatte sich nicht nur wegen des Sternenhimmels bereit erklärt, die erste Wache zu übernehmen. Sie wollte wissen, ob sich die Leuchterscheinung wiederholte. Sie glaubte nicht, dass es von einem untergehenden Stern verursacht worden war. Und sie behielt Recht.
Sie und Freno hatten sich vor einem nahen Felsen niedergelassen. Im Licht der Sterne und der aufgehenden Monde wurde die Landschaft in einen finstergoldenen Schein getaucht. Der Wind hatte sich ein wenig gelegt und war nicht so kalt, wie sie erwartet hatten. Die abgehängten Fenster der Hütte waren schwach erleuchtet und sie hörten ein leises Murmeln. Solvyn hatte dafür gesorgt, dass auch Freno sich so hingesetzt hatte, dass er in die Richtung des Berggipfels blicken konnte. Und ihre Hoffnung ging in Erfüllung. Sie saßen noch keine halbe Stunde, da wiederholte sich das Funkeln.
„Da“, sagte sie. „Hast du es auch gesehen.“
„Was?“
„Es blinkt. Oben auf dem Berg. Eben war es -, da, schon wieder.“
„Tatsächlich. Jetzt habe ich es auch gesehen.“
„Was ist das?“
Freno zuckte mit den Achseln.
„Ich weiß nicht.“
In den nächsten Minuten wiederholte es sich noch zweimal. Freno ging zur Hütte und holte die anderen.
Neugierig starrten sie jetzt alle zu dem Berggipfel. Ihre Geduld wurde aber auf eine harte Probe gestellt. Einige wollten schon aufgeben, als es plötzlich zweimal kurz hintereinander aufblitzte.
„Hm“, machte Tjerulf. „Ich habe keine Ahnung, was das ist.“
Keiner hatte eine Erklärung.
„Ich würde es schon gern wissen“, meinte Meneas, „aber ich glaube, es wird nur schwer zu erreichen sein. Der Berg ist steil und felsig. Außerdem liegt dort oben Schnee. Es wäre ein gefährliches Unterfangen.“
„Und vertane Zeit“, sagte Tjerulf. „ich glaube kaum, dass es etwas mit unserer Suche zu tun hat.“
„Das ist wahrscheinlich“, pflichtete ihm Meneas bei. „Vielleicht später einmal.“
Die Wachen konnten die Erscheinung noch einige Male in der Nacht beobachten. Erst nach Sonnenaufgang schien es aufzuhören.
Sie hatten ihre erste Nacht am Sommersee verbracht und wussten daher nicht, ob es sich in anderen Nächten genauso verhielt. Es konnte gut sein, dass dieses Leuchtfeuer, wie Anuim es nannte, eine Eigenart des Berges war. Jedenfalls gab es keinen Grund, der Sache nachzugehen, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt.
Nach dem Frühstück machten sie sich zunächst daran, das Dach abzudichten. Da sie damit rechneten, noch einpaar Tage in der Gegend zu bleiben,