George Orwell schrieb, dass alle Unterschiede in Ethnien, Religion, Bildung, Moral und Temperament überwindbar sind, nur die körperliche, geruchliche Ablehnung des Gegenübers nicht. Tolaas aber sagt: Wer ein offener Staats- und Weltbürger sein möchte, muss mit der Toleranz der Nase beginnen. Die ist lernbar, wenn man den Geruchssinn wieder ins Bewusstsein holt. Dann ist es möglich, Kategorien wie riecht gut / riecht schlecht aufzulösen, Düfte differenzierter zu beschreiben und sie vielleicht irgendwann – wie Tolaas – als neutrale Informationen zu verarbeiten. Mit ein wenig Übung verschafft uns die Nase ungeahnte Lust am Sinn und damit Erkenntnisse, die anderen verschlossen bleiben.
An olfaktorischen Wahrheiten hat jedoch nicht jeder Interesse. In zeitgenössischen Wohn- und Konsumwelten ist es ein beliebter Trick, Frische, Sauberkeit und Wohlgefühl durch Parfümierung vorzutäuschen. Wo es gut riecht, da lass dich nieder. Supermärkte verströmen den Duft frisch gebackenen Brotes, um ihren Umsatz zu steigern. Oder sie entziehen der Welt gleich ganz ihren natürlichen Geruch: Auf Madeira wurde 2006 ein Fischmarkt entworfen, der nicht nach Fisch riecht. Allein um als mündige Verbraucher die Welt begreifen zu können, müssen wir unseren Geruchssinn fit machen.
Ein olfaktorischer Stadtrundgang kann Neugierige auf die richtige Fährte bringen. Die Sommerzeit eignet sich bestens für Erkundungstouren der Nase nach, weil die warmen Temperaturen Geruchsmoleküle mobilisieren. Warum nicht nach New York, um die Zwiebelbagel an der Wall Street, die Hochglanzmagazine im Central Park oder das billige Eau de Cologne in Harlem zu riechen. Diese Stadt ist ein Zentrum der Olfaktoristen, so viele Schnüffelwege und Sinnesführungen gibt es. Die Stadtplanerin Nicola Twilley hat eigene Duftkarten für New York gestaltet, zum Rubbeln: Ihr Scratch ‘N Sniff NYC ist inspiriert von Tolaas' Methoden und nutzt sie, um einzelne Metropolregionen und Nachbarschaften zu charakterisieren. Die britische Grafikerin Kate McLean spürt am Zeichentisch den Winden nach und übersetzt ihre nasale Wahrnehmung in optisch wirkungsvolle Sensory Maps .
Nach der Optik und Akustik hat man in den vergangenen Jahren die Olfaktorik als Gestaltungsmöglichkeit entdeckt. Die Erforschung der Gerüche ist eine noch junge Teildisziplin der Architektur. Die Erkenntnis, dass bestimmte Düfte eigene, positive Räume und Gefüge entstehen lassen, ganz unabhängig von der baulichen Struktur, kann der Stadtplanung wichtige Impulse geben. Voraussetzung ist auch hier, dass bewusst über Gerüche gesprochen wird. Dass die Bewohner eines Viertels befragt werden, ob ihnen der Hähnchenimbiss genauso stinkt wie den Architekten oder ob sie den Bratendunst nicht doch als heimelig und identitätsstiftend empfinden.
Victoria Henshaw von der Manchester University untersucht urbane Smellscapes. Sie hat schon viele Testpersonen durch Stadtviertel geführt und sie nach deren Wahrnehmung gefragt. Mit ein wenig Konzentration riechen sie tatsächlich über das Offenkundige hinaus. Hinter den Verkehrsabgasen, dem Müll, Zigarettenrauch und Kaffeedunst entdecken sie Bäume, Blumen, Beton, Wasserkanäle oder Flüsse, Marktplätze, Restaurants, Straßenhändler und andere Menschen. Die Erforschung der alltäglichen Geruchswahrnehmung lenke die Aufmerksamkeit auf klassische urbane Themen wie Luftqualität, Gesundheit, Integration sowie auf die schwierige Balance zwischen öffentlichem und privatem Raum in der Stadt, schreibt Henshaw.
Aus dem akademischen Ansatz kann ein didaktischer werden: In Kansas City hat Tolaas am 7. September ein mehrwöchiges Smellscape-Projekt begonnen. Es vereint Wissenschaft, Kunst und Schnitzeljagd zu einem game to discover the invisible city . Ein Detektivspiel mit olfaktorischen Spuren samt Smartphone-App, das bisherige Augmented-Reality-Programme infrage stellt: Es gibt eine erweiterte Realität, die wir ohne technische Hilfe wahrnehmen können.
Unser Geruchssinn öffnet uns neue Welten. Wie aber anfangen? Sofort? "Mach' die Augen zu und versuche, Deinen Weg zu finden", sagt Tolaas. "Wer seine Nase richtig benutzt, findet auch Land in der Stadt."
Paris von unten, New York von innen
Wer vor der Leinwand sitzt, kann mehr über das Leben großer Metropolen lernen als jeder Tourist. Wenn Sie fremde Städte in Ruhe erleben wollen, schauen Sie diese Filme.
VON WENKE HUSMANN
Venedig Sie sind wütend, weil Sie so lange gezögert haben, die zwei Billigflugtickets zu buchen.
Jetzt sind sie weg und 485 Euro pro Nase echt zu viel für ein spontanes Wochenende in Venedig. Legen Sie Wenn die Gondeln Trauer tragen aus dem Jahr 1973 ein. Donald Sutherland und Julie Christie versuchen darin, den Unfalltod ihrer kleinen Tochter zu verarbeiten, indem er eine neue Stelle in Venedig annimmt. Natürlich ist es Winter: Nebel, das Licht einer tiefstehenden Sonne, kaum Touristen. "Hey", denken Sie jetzt, "ich bin doch schon sauer, weil ich nicht fliegen kann." Warten Sie ab, bis in den feuchten Gassen das tote Mädchen wieder auftaucht. Dann wollen Sie auf gar keinen Fall mehr hin.
Paris Sie glauben noch immer, Paris sei die Stadt der Liebe.
Dann können Sie sich Filme wie Ein süßer Fratz mit Audrey Hepburn von 1957 oder Die fabelhafte Welt der Amélie mit Audrey Tautou von 2001 ansehen. Ganz Hartgesottene naschen dazu Pralinen.
Sie mögen es gern etwas untergründiger.
Subway von Luc Besson: Isabelle Adjani als gelangweilte Bourgeoise mit dem schönsten Irokesenschnitt der Filmgeschichte und Christopher Lambert mit einem Blick, so schräg wie die Story, verbringen einen Großteil des Films in der Metro und deren Tunneln. Dazu spielt wirklich trashige Achtziger- Jahre-Musik.
Sie wählen die Piraten-Partei.
In Diva von Jean-Jacques Beineix beschafft sich ein junger Mann illegal die Aufzeichnung einer Opernarie, was schon 1981 ein Delikt war. Im Folgenden geht es um die Verfolgung des Urheberrechtsverletzers durch ganz Paris.
London Sie mögen Schauer.
Hitchcock hat seine erfolgreichsten Filme in Amerika gedreht, obwohl er Brite war. Für Frenzy kam er 1970 zurück. In dem Thriller geht es um Essen, Sex und Mord – vielleicht weil er in England spielt, eine besonders haarsträubende Verbindung. Fingerknochen, die in einer Szene gebrochen werden, machen die gleichen Knacklaute wie die Grissinis, die später gereicht werden. Abgesehen davon gibt es den alten Obst- und Gemüsegroßmarkt Londons in Covent Garden zu sehen und eine der besten Suspense-Szenen des Meisters mit einer vollkommen tonlosen Kamerafahrt. Danach können Sie sich eine hübsche Krawatte kaufen gehen.
Auch mehr Schauer stören Sie nicht.
Dann gönnen Sie sich einen Abend im Dienste seiner Majestät mit Dame, König, As, Spion von 2011. Neben dem Gesicht von Gary Oldman, der als alternder MI5-Agent brilliert, kann man auch das Victoria and Albert Museum in South Kensington bewundern. Das diente der Bestseller-Verfilmung als Drehort für den Circus, den Sitz des Geheimdienstes.
Beides nichts für Sie, denn Sie sind ein ganz ein netter Mensch?
1999 erlebte Notting Hill ungeahnte Touristenanstürme, weil der Regisseur Roger Michell die zwei Großstars Julia Roberts und Hugh Grant in den Stadtteil brachte, der fortan als trendig galt. Sie ist eine berühmte Schauspielerin, er ein kleiner Buchhändler (also im Film jetzt), sie verlieben sich. Happy End.
Manchester Ihr Geld reicht nur für ein Ticket nach Manchester?
Auch wenn Sie gar kein Freund von Sozialdramen sind, in Ken Loachs Looking for Eric lernen Sie Manchester (und – ganz wichtig für Fußballfans – Manchester United) von einer Seite kennen, die so herzerwärmend ist, dass Sie sich nach Ihrer Ankunft postwendend sozial engagieren werden.
Stockholm Sie kennen Acne und lieben Bullerbü.
Wenn Sie