Wir wurden geradezu kinosüchtig. Vielleicht war unser Städtchen in dieser Beziehung nicht einmal am verruchtesten, herrschte in den Zentren doch kaum mehr Gelassenheit und Skepsis gegenüber der emotionellen Aufrüstung. Und jeder Tag und jeder einlaufende Eisenbahnzug brachte andere Männer und Frauen her. Ob wir es wollten oder nicht, wir hatten an dem gesellschaftlichen Leben dieser Jahre teil. Es ist leicht gesagt, da es sich um eine mit Euphorie gemischte Untergangsstimmung gehandelt habe. Wir, die Jungen, fühlten uns durch die Nebenerscheinungen des Krieges angelockt, wie von einer Ödnis erlöst; jeder konnte etwas durch sich selbst werden, durch verwegenen Mut, und ging alsbald doch verloren in diesem Meer an Heldentum, Liebe, Tod und Tränen. In keiner anderen Armee als der Wehrmacht des Zweiten Weltkrieges hat es so viele blutjunge Offiziere gegeben, vielleicht ausgenommen die Grenadiere Napoleons. Ohne Zweifel verstanden alle, dass sie immer schneller in die Tiefe glitten, aber es war eine Fahrt von eigenem Reiz, ein glanzvoller Rausch. Anders erklärt sich der Drang zu den tödlichen Unternehmungen nicht, der bis zum Ende des Reiches anhielt. Und selbst wenn der Untergang nahe bevorstehen sollte, so war die junge Kriegerelite nicht geneigt, diesen Zustand zugunsten eines ruhigeren Geschichts- und Geschäftsganges aufzugeben, bis auf Weiteres zumindest.
Leser! Ich komme vorgreifend auf ein Gebiet des menschlichen Herzens zu sprechen, wo Verstand nur wenig ausrichtet, wo wir uns den Gefühlen überlassen müssen, um zu verstehen. Wir suchen gleich dem Insekt die Strahlen des Lichtes, um darin zu versengen, was die Heutigen als Grenzerfahrung bezeichnen. Um jene Zeit sah ich wohl mit Kniri und Jan einen Film, dessen Titel mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist. Kadetten hieß er nach einem Ereignis aus dem Siebenjährigen Krieg. Kosaken verschleppten eine Gruppe Kadetten aus der Berliner Anstalt ins Ungewisse. Ein preußischer Offizier in russischen Diensten befreit sie, es kommt zum dramatischen Gefecht zwischen russischen Soldaten und den jungen Soldaten unter Führung eben jenes Mannes, der aus plärrenden Kindern kämpfende, edelmütige Männer macht. Am Ende siegen die Kinder, die Hundertschaft von acht- bis zwölfjährigen Knaben, geführt vom Rittmeister von Tzülow, aber ihr Führer opfert sich zuletzt selbst. Wir fühlten mit den in friderizianischen Uniformen steckenden jungen Nationalsozialisten, den Filmern gelang die vollständige Identifikation zwischen uns und diesen historischen Hosenmätzen. Nicht wir sind an unserem Irrtum schuld gewesen, wenn es denn überhaupt einer gewesen ist. Wenn sich in den letzten Filmsequenzen die Knaben mit rauchgeschwärzten Gesichtern unter den Soldatenperücken und ihren Vorderladern und Degen erheben, bereit, bis zum äußersten für ihre Existenz wie für das Vaterland zu streiten, nicht bloß um ihr Leben - das lag abgetan hinter ihnen, und so lag es auch hinter uns -, so waren wir und sie bis an die Grenze unserer ethischen Möglichkeiten gelangt.
Sicherlich ist es dem Regisseur Karl Ritter tief zu danken, sich derart um uns gekümmert zu haben, und jedenfalls verstand er eine Menge von unseren jugendlichen Idealen und Seelen. Es muss wohl doch für Jung und Alt süß und ehrenvoll sein, fürs Vaterland zu sterben, eine Tradition, die bis auf das römische Staatsvolk zurückgeht, und eine Praxis, die sich über zwei Jahrtausende gehalten hat und auch weiterhin Bestand haben wird, solange es Vaterländer oder damit Vergleichbares gibt. Was mich betraf, in jener Zeit trat ich in eine Beziehung zum Töten und damit auch zum Sterben. Hochwürden Fabian hatte gesagt, dass der Tod nicht bloß ein uns durch die Natur auferlegtes Ende sei, sondern dass wir durch die enge Pforte des Todes zum Licht gelangen würden. Der in Kadetten so sichtbar vorgeführte andere Zweck des Lebens, des Sterbens und des Tötens trat mit meinem Glauben an die Erlösung in Konkurrenz. Einen Vaterlandsbegriff hatten wir im Grunde gar nicht, wohl aber ein starkes Heimatgefühl, neben der personalen Bindung an den Führer, den Führer schlechthin. Wir starben eben, wenn es dazu kam, und wir sehnten den Augenblick herbei, wo wir unter das Gewehr gerufen wurden, für das Vaterland, das heißt, für uns selbst, für unsere Ehre. Und just um diese Zeit hörten wir auch im Deutschunterricht vom Lehrer Caskorbi das Schillerwort vom Leben, welches der Güter Höchstes nicht sei, hingegen dürfte als der Übel Größtes die Schuld gelten, wiewohl der Nationaldichter der Deutschen die Schuld im Folgenden nicht näher bezeichnete. Somit entstand ein unsichtbares Geflecht zu Schiller, zum Schauspieler Wiemann, zu Karl Ritter, zu den Hosenmätzen und zu uns, der leibhaftigen Verkörperung des Gedankens von Liebe und Tod.
Obwohl im Film keineswegs von Liebe die Rede ist, so war uns die körperliche Nähe von Frauen oder des Erotischen bewusst. Wir erkannten, dass dies alles vom weiblichen Geschlecht beobachtet, beurteilt, belohnt oder verworfen wurde, im Film wie im Leben. Was machte uns nun eigentlich diese Nähe von Liebe und Tod so anziehend? Die Einmaligkeit, das Nichtwiederholbare der Liebeserfüllung. War es so, dass Menschen in der Spanne zwischen Liebe und Sterben ihre letzte Bestimmung fanden? Oder hatten nur wir, die reine Jugend, dieses Todesgefühl in der Lustverbindung gespürt? Und wie stand es mit den Mädchen? Waren sie nicht auf das Rad der Liebe und des Todes geflochten wie wir Jungen, wie die Kadetten des Ritter-Films mit ihrem Protagonisten Wiemann, der für uns alle das anständige Sterben vorexerzierte? Und wieso neigen gerade Soldaten dazu, sich bis zur Lächerlichkeit zu schmücken und dekorieren zu lassen? Wir übersahen keineswegs das Effektvolle der Kadettenuniformen, den eleganten Schnitt der realen Offiziersröcke. Weshalb übertrieben Römer und Griechen, Germanen und Indianer alles Äußerliche, falls sie Soldaten und im Kriege waren? Der Bote wusste dem Perserfürsten zu melden, dass sich die griechischen Verteidiger bei den Thermophylen salbten und schmückten, was dieser nicht verstand und verächtlich abtun wollte, bis ihm der kluge Grieche bedeutete, auf ihre Weise rüsteten sich die Spartaner zum Sterben.
Genug der nachgereichten heilkräftigen Medizin; mit diesen Dingen stand unsere frühe körperliche Reife in einem innigen Zusammenhang und nur deshalb erlaubte ich mir eine über das biografische hinausgehende Betrachtung. Sicherlich gibt es auch den Rotzblasen heulenden Bengel, der sich bloß fürchtet, ein elender Tropf, um den niemand trauert.
Film war unsere geistige Kost, er entsprach dem ästhetischen Gefühl der Zeit, seine Suggestivkraft war ungeheuer. Für fünfzig Pfennige konnten wir jede Art von Film konsumieren. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahr ich den ersten Film mit der Schauspielerin Marika Rökk sah, und ich weiß nicht einmal, wie oft ich sie überhaupt im Film gesehen habe, aber ich kann noch heute die lebhafteste Erinnerung an diese Frau in mir wachrufen. Sie bot dem gewöhnlichen Mann wie dem Exhibitionisten, was er suchte, spendete dem Knaben mit erwachenden Sehnsüchten Lust, die nicht