Der Leser, dessen Geduld ich mit den wahrheitsgetreuen Berichten aus meinen frühen Kindertagen in der Provinz womöglich gelangweilt habe, wird fragen, wozu das alles? In der Tat hat noch niemand eine Antwort darauf geben können, weshalb sich politische Zustimmung stets in übertreibenden Formen zu äußern pflegt. Und es sei immerhin erwähnt, dass sich der normale Zeitgenosse regelmäßig und willig unter das Joch des Gefühlskollektivs beugen lässt, und sich dabei mit sich selbst ganz im Reinen befindet. Auch die sogenannte Demokratie zeigt in ihren Ritualen Züge kollektiven Wahns, auch sie muss ihre Anhänger an die Redefront rufen, das Volk an die Pose des öffentlichen Redners und Schauspielers gewöhnen, um es auf eine Lehre einzuschwören, mit der rechten unter dem Schlüsselbein, wo sie das Herz vermuten.
Wir treten nunmehr in meinen neuen Lebensabschnitt ein. Was bis hier geschehen, das sollte in meinem Leben gewissermaßen die Keimzelle für alles Spätere werden, ich war in meinem Grundgestus fertig, meine Erziehung war abgeschlossen. Wenn ich an anderer Stelle sagte, dass ich gut beraten gewesen bin, als ich mir das Knochenhauerinnungshaus zum Schauplatz meines ersten Wirkens aussuchte, so hätte ich mir nach beinahe sechsjähriger Lebenserfahrung wiederholen dürfen, dass es keine schlechte Wahl gewesen ist, eine, wie ich sie nicht besser hätte treffen können, wäre ich gefragt worden. Meine Großeltern sind gewöhnliche, herzenswarme, freundliche, habgierige, ziemlich nutzlose und überdies beschränkte Menschen gewesen; nur meine arme Mama brachte das Element der Gestrauchelten in unser bürgerliches Heim, und Hochwürden Fabian, den Arzt Doktor Wilhelmi an der Seite, geleitete uns sicher durch den unsicheren Alltag, wie die letzten Episoden bewiesen haben. In die Kinderstunde brauchte ich also nicht mehr zu gehen. Mama hielt es nach den Erfahrungen, die ich mit der Tante gemacht hatte, für besser, mich zu Hause unter Kontrolle zu behalten. Merkwürdigerweise sind Weltanschauungslehren darauf aus, die zahlreichen kleinen und großen Einzelwesen, deren Reichtum gerade in ihrer Individualität besteht, gleichzumachen und sich und uns einzureden, wir seien alle von ein und derselben Art, mit gleichen angeborenen Farben, Eigenschaften und Rechten, was augenscheinlich unwahr ist. Da sich dieses Kapitel mit der Erziehung kleiner Jungen und Mädchen befasst, so durfte, was ich zu berichten hatte, auch hier stehen.
Mama abonnierte mittlerweile eine Zeitung für mich, welche sich Die Deutsche Kinderschar nannte. Es handelte sich um ein kindergerecht aufgemachtes Blatt mit lustigen Zeichnungen, kleinen Gedichten und längeren Texten; ich bin nicht sicher, ob ich sie als Prosa bezeichnen darf. Mir gefiel die Zeitung ganz außerordentlich, und Mama sagte das eine über das andere Mal zu Großmutter, sie glaubte, jetzt werde Jakob vernünftig, er nehme Lehre an und könne sich schon sehr gut in diese unsere Welt hineinversetzen. Und das stimmte, obschon ich noch immer nicht lesen und nicht einmal begreifen konnte, warum ich es lernen sollte; also mich beschäftigte die Zeitung sehr, aus der mir Großvater gern vorlas. Nach mehrmaliger Wiederholung konnte ich auch längere Passagen behalten und andere mit meinen Künsten verblüffen. Es war meine Zeitung, und ich erkundigte mich immer dringlich, wann sie endlich komme, falls der Termin ihres Erscheinens meinem Zeitgefühl nach überschritten war. Sie kam stets, wenn auch manchmal mit Verspätung. Ich wusste schon, dass ich mit zunehmendem Alter immer andere Zeitungen bekommen würde, immer größere, mit anderen Bildern und umfangreicheren Texten, und so fort bis hin zum Völkischen Beobachter, den Großvater im Abo erhielt, den Angriff, zu schweigen vom Schwarzen Corps, eine Zeitung, deren Name mir als besonders geheimnisvoll gefiel. In der Provinz wirken Symbole länger und direkter als in großen Zentren mit den Angeboten an Chiffren und Piktogrammen, die sich überdies auch noch rascher abnutzen und verbrauchen. Bis heute aber ist mir ein Gedicht aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben, dessen stampfender Rhythmus wahrscheinlich frühzeitig meinen Sinn für das Gebrauchslyrische weckte, indem ich denn auch erfolgreich wurde. Später habe ich auf dieser frühen Erfahrung aufbauen und ein großes Publikum um mich versammeln können; nämlich als ich die Errungenschaften des Sozialismus und dahinter die strahlende Zukunft des Kommunismus in rollenden Zeilen besang, häufiger dachte ich an die erste Zeit meiner künstlerischen Bildung zurück. Daher könnte man bei meiner Autobiografie auch von einem Bildungsroman sprechen. Ein Gedicht lautet folgendermaßen: Wir sind jung, wir sind noch klein, / Wir kennen nicht Kampf noch Sorgen, /Wir wachsen in die Zeit hinein, / Wir sind das Deutschland von morgen! So die Überlieferung, und ich sehe Mama noch vor mir, die Zeitschrift auf den Knien, mit den Händen den Takt des Gedichtes schlagend, während Großmutter aus ihren scharfen beobachtenden Vogelaugen spöttische Blicke zu ihr abschoss.
Hochwürden Fabian bewegte spielerisch die Tasse mit dem Rest Kaffee; er kippte sie so weit, dass die Flüssigkeit jeden Augenblick auszulaufen drohte; mir wäre solch ein Spiel untersagt worden. Interessiert fragte Großvater, ob vielleicht auch Noten dazu abgedruckt seien. In Musik war diese Kunst allerdings nicht gesetzt worden. In jener Zeit, ehe ich aus der Kinderstunde entfernt wurde, stand ich bei irgendeiner Gelegenheit im Wappensaal des Rathauses auf einem Podium, hinter mir die Winzlinge noch aus der Kindergruppe in Reih und Glied unter Obhut der Tante Schuhschnabel, stellte die Füße zusammen, dass sie einen rechten Winkel bildeten, hob die Hand zum Gruß und rief strahlend-frisch: Heil Hitler! Danach sprach ich mein Gedicht. Es muss ergreifend gewesen sein, viele, alle blickten ratlos ergriffen zu Boden oder weinten, standen auf und klatschten Beifall, unser Kreisleiter legte mir seine Hand auf die Schulter. Lächelnd verneigte sich Mama nach allen Seiten. Selbst Doktor Wilhelmi hatte sich von seinem Stuhl erhoben; sie trat auf ihn zu und warf sich ihm um den Hals. Beide hielten sich lange umschlungen, bis Großmutter eingriff, mich grimmig vom Podest herunterholte, mir den Mantel anzog und vor sich hin sprach: »Deine Mutter lässt wahrlich keine Gelegenheit aus, sich ins Gerede zu bringen!« Ich aber erklärte ihr, dass sie nur wütend sei, weil Doktor Wilhelmi meine Mama lieb habe und sie ihn! »Na, wahrhaftig«, sagte sie lachend, »kluges Kind, das du bist! Aber was rege ich mich über diese Hurenwirtschaft eigentlich noch auf!«
5. Kapitel
Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind in der Mitten, ein solches goethesches Weltkind bin ich gewesen oder geworden, von Propheten geleitet, von meinem Inneren her in Ängste und Rauschzustände versetzt, erlebte ich mich selber wie im Zentrum eines Wirbelsturms, ehe ich im Hafen des Erkennens und der Stille in unserer Landesnervenheilanstalt vorläufig zur Ruhe kam. Kein Mensch lernt gern, keiner arbeitet gern, und nur wenige finden Gefallen daran, sich befehlen zu lassen. Dies gehörte zu meinen kindlichen Einsichten; aber unglücklicherweise ruhen die Fundamente der Staaten just auf diesen drei Säulen, auf Bildung, Arbeit und Unterordnung. Es gibt sicher viele Arten, mit den Lebensproblemen fertig zu werden; man kann aufbegehren, kann sich fügen und in Stumpfsinn fallen; es ist eben doch nicht einfach, all die kleinen Individualisten gleichzumachen. Daher hat die Welt eine große Zahl didaktischer Systeme hervorgebracht. Hier ist zu bedenken, dass ich im Jahre meiner Einschulung 1942 erst oder beinahe schon sieben Jahre zählte; meine Erfahrungen waren auf den häuslichen Kreis verwiesen, und kulturell auf die kirchlichen Rituale beschränkt. Ich befand mich als Weltkind durchaus bereits in einem Zwiespalt, ohne diesen schon ganz zu empfinden. Um die spätere Erkenntnis hinzuzufügen; ich habe mich nie in einen Gewissenskonflikt hineinbewegen lassen, sondern alles genommen, wie es kam und mir einen Reim darauf gemacht oder, alles ging mir am Arsch vorbei, wie man heute sagt.
Bis hier war mein Dasein von den beiden Autoritäten Staat und Kirche in Gestalt der Tante Schuhschnabel und meinem Wahlvater Fabian bestimmt. Für den katholischen Laien ist die Ordo Missae ein Buch mit sieben Siegeln, eine Art Hokuspokus; mir war sie durch