Wenig Gefallen fand ich an der Sucht meiner Familie, mir ständig Versprechen abzufordern, als Blankoscheck für alle Zukunft, etwa, nie mehr zu lügen, keine Süßigkeiten mehr zu essen und ähnlich Albernes. Dafür gab es auch große Verheißungen, die dem Versprechen des Himmelreiches gleichkamen. So sollte ich das Knochenhauerinnungshaus erben und Uhrmacher werden, durfte jedoch das Geschäft nicht weiterführen, wenn es nichts mehr einbrachte, sondern musste es verkaufen, einem Unwissenden andrehen, und ein anderes eröffnen. So die eine der familiären Visionen. Großvater empfand das Dasein eines kleinbürgerlichen Händlers und Uhrmachers als bedrückend, deshalb sollte ich seiner Ansicht nach lieber Künstler werden. Großmutter hingegen hielt den Besitz wie das Betreiben eines Geschäftes für das irdische Glück, mindestens aber für eine der sichersten Lebensgrundlagen. Mama bestand wie gesagt darauf, sobald es die Weltlage gestattete, die Kleinstadt zu verlassen und nach Südamerika oder nach Paris auszuwandern, notfalls in Eisenach oder in Weimar Station zu machen, oder sogar dort zu bleiben, wie ich schon berichtete habe, ohne zu bedenken, wovon sie leben würde.
»Möchtest du nicht Uhrmacher werden, wie Großvater?« diese Frage enthielt eine Drohung, die ein Nein verbot. »Möchtest du mit deiner Mama nach Paris?« Dieser mütterlichen Nötigung konnte ich nur entgehen, wenn ich vorgab, noch zu schwanken. »Möchtest du nicht Künstler, Musiker werden? Wir könnten dich nach Weimar in das Konservatorium schicken.« Ohne meine Fähigkeit, sie zu belügen, wäre ich in diesem Dschungel aus Liebe und Verblendung verloren gewesen. Ich will ein Beispiel geben, wie ich mich durchwand.
Einst stand ich mit dem Alten auf einer Eisenbahnbrücke. Wir blickten hinunter auf die Gleise, und Großvater fragte mich beiläufig, ob ich wohl Lokomotivführer werden wollte. Einen Augenblick lang mochte ich darüber nachgedacht haben, ob ich das wirklich wollte, ehe mir einfiel, was andere Knaben dazu geäußert hatten. Sie alle wollten Lokomotivführer werden, ein Grund für mich, es nicht zu wünschen. Hätte ich einfach ja gesagt, so wäre es zur unumstößlichen Gewissheit geworden: Jakob will Lokomotivführer werden! Warum will Jakob Lokomotivführer werden? Woher hat er das? Lassen wir ihn Lokomotivführer werden! ... Nichts lag mir ferner, Eltern und Großeltern zuleide und zuliebe wollte ich kein Führer werden, schon gar keiner von Lokomotiven. Nun kroch eine solche Dampfmaschine auf Rädern unten entlang, wie eine matte Raupe auf einem blitzenden Lineal. Der Mann, der sie lenkte, blickte mit ernstem, wenn nicht hoffnungslosem Ausdruck in den Augen zu mir hinauf, der es mir verbot, ihm auf diesem Weg zu folgen. Ich brauchte wahrlich keine Belehrung mehr, um zu wissen, was es hieß, Lokomotiven zu führen. Es bedeutete, eine dreckige Mütze auf dem Kopf zu haben, und in einen schmierigen Eisenkasten eingeklemmt zu werden, solange es andere wollten. Mit der Frage war ich also bald fertig, nicht so schnell jedoch mit der Antwort. Noch einmal schaute ich nach unten; der Mann winkte herauf. Ich versagte ihm den Gruß nicht, eine respektvolle Geste meinerseits für den Kapitän eines sinkenden Schiffes. Dann wendete ich mich Großvater zu und gab ihm eine meiner Visionen, ein Bild, das ich übrigens lange in mir trug und leicht beschreiben konnte: Ich sah mich wie der Prophet auf einer Wolke sitzen und Tafeln auf den Knien halten, von denen ich ablas, was andere an meiner Statt tun sollten, sicherlich sehr profane Dinge. Großvater schwieg bestürzt, dann schüttelte er den Kopf und sagte traurig: »Jakob, du bist verloren! Ein Taugenichts, auch wenn er ein Prophet ist, endet im Zuchthaus!« Er hatte recht. Wie soll ich sagen? Mein Ja zum ehrenwerten Beruf eines Lokomotivführers hätte Großvater, hätte sie alle befriedigt und als eine altersgemäße Äußerung hingenommen; einen Propheten wollten sie nicht, der sein Leben im Kerker aushauchte. Ich wäre jedoch der ganzen Herrschaft über mich selbst und durch mich selbst beraubt worden, hätte ich mich zu einem bürgerlichen Beruf bekannt, ehe ich meinen Namen zu lesen verstand! Vielleicht war es das, was ich unklar empfand und weshalb ich widerstand.
Merkt es euch, ihr Knaben! Es mag Wunderkinder geben, zwölfjährige Dirigenten, die ihr Publikum beschwören können, an ihr Genie zu glauben, oder kleine Schachkönige, Knaben also, die durch listige Führung ihrer Treiber zu frühen Ehren kommen und die ihren Dompteuren Ruhm und viel Geld eintragen. Sie müssen jedenfalls ihre Anpassung an die Wünsche anderer teuer bezahlen; wenn der Wind des Lebens sie anbläst, schrumpfen sie zu Nullen, oder sie schlummern in ihrer eigenen Vergangenheit weiter bis an ihr seliges Ende, wie eine Larve in ihrem Kokon. Wie anders nehmen sich dagegen die unsicheren Sprünge der eigenwilligen kleinen Rebellen aus! Ewig löcken sie wider den Stachel, ständig zerren sie an unseren Nerven und werden zuletzt doch Wein, mochten sie sich als Most auch noch so ungestüm gebärdet haben, eine Belehrung durch den Altmeister der Deutschen. In der Tat aber sollte ich am Ende so etwas wie ein Verkünder allerletzter Wahrheiten werden, freilich ohne selbst ganz an meine Sprüche zu glauben, und ich habe den Verdacht, mich damit in keiner kleinen Gesellschaft zu befinden. Leider aber enthält Großvaters Vorhersage meines Erachtens eine grauenhafte Wahrheit, sodass nicht mir, sondern ihm das letzte Wort zufällt. Diese Episode aus meiner Kindheit wurde später oft kolportiert. Jakob will kein Lokomotivführer werden, haha! Den Spott, der damit verbunden war, ertrug ich, eingedenk der Vorteile, die ich genoss, weil ich standhaft geblieben war. Mir ist durchaus klar gewesen, in welchem Maße ich von meiner Familie abhing. Mama, Großmutter und Großvater konnten mich, wenn sie wollten, kommandieren, was von Zeit zu Zeit auch geschah, aber ich durfte mir nicht einfallen lassen, ihnen zu befehlen. Der bloße Versuch hätte sie veranlasst, mich wie einen Hund aufzujagen. Die Beobachtung ihrer Schwächen verlangte meine höchste Konzentration. Darin brachte ich es zur Meisterschaft. Bald vermochte ich es vorauszusehen, wann der Kohleneimer so weit geleert war, dass ihn einer füllen musste. Und es gab viele, allzu viele mit Kohle geheizte Öfen im Hause! Warum sollte gerade ich derjenige sein! Gab es nicht drei rüstige Erwachsene im Haus? Und das Dienstmädchen, der am Ende diese Aufgabe zufiel, die Eimer im Keller mit Kohlen zu füllen und hinaufzuschleppen! Ich schloss mich ein, stellte mich schlafend, entlief ins Freie, bis sie die Sache erledigt hatten. Andererseits lernte ich es auch, Hinfälligkeit und Dankbarkeit vorzutäuschen. Letztere nutzte ich meist zur Vorbeugung und spielte listenreich den einen gegen den anderen aus. Wegen dieser Fähigkeiten hielten sie mich für ein fixes Kerlchen …
Der Tonfall, in dem ich über meine ersten Lebensjahre berichte, mag aus dem Rahmen fallen, aber es muss bedacht werden, dass ich neben der vagen Erinnerung an diese Zeit nur die Möglichkeit habe, den Dingen mit meinen heutigen sprachlichen Mitteln auf den Grund zu kommen, es sei denn, Mamas Tagebücher geben darüber Auskunft. Und, ihr Knaben späterer Zeit, ihr wisst nicht, wie gut ihr es mit euren alleinerziehenden Müttern getroffen habt! Ihr könnt ihnen beinahe alles einreden und vorgaukeln; sie glauben an euch, an eure Begabung wie an eine Offenbarung! Ihr seid ihnen der Mannersatz in ihrem langweiligen Leben, es sei denn, sie wenden sich der Politik zu, um vollends zu verderben, in Geschwätz und Zank. Ich war ein Einzelkind, außerehelich gezeugt, ich trug Mamas Namen Ponte. Auf die Frage, ob ich meinen Papa liebe, hätte ich antworten müssen: »Nein, ich kenne ihn gar nicht, ich habe nur eine Mama«, aber ich sagte verlogen genug: »Ja, ich habe Papa von Herzen lieb. Leider ist er gerade nicht da.« Übrigens handelt es sich wohl um eine blöde Frage, auf die es im Grunde keine Antwort gibt, da einem Kind ja nicht anheimgestellt wird, seinen Erzeuger zu lieben, der es womöglich gar nicht gewollt hat. Facia Pater notus est, quid filius faciat, sagen klassische gebildete Menschen, von denen es damals noch viele gab, aber dass ein Vater über den Tatendrang seines Sohnes stets im Bilde ist, wie es die Römer für wünschenswert erachteten, ist zu bezweifeln. Im Regelfall hat der Erzeuger nicht die mindeste Ahnung, was der pubertierende, masturbierende Sohn treibt, ob er mit dem Geld, welches er ihm abgezapft hat, eine Grammatik kauft, wie er vorgab, oder es mit einer Dirne durchbringt, was nicht die schlechteste Art ist, Geld auszugeben. Balzac hat recht; es gehört zur Jugend, zwar nie Geld zu haben, aber immer welches zu verschleudern, und Mister Hemingway erinnerte