Ebenso wie den zweiten Teil seiner Aufgabe: den Umgang mit anspruchsvollen, verwöhnten und erwartungsfrohen Passagieren. Davon hatte er nun überhaupt keine Ahnung. Passagiere an Bord, sowas hatte es auf der “Essen-Expreß“ nie gegeben. Und auch nicht auf den anderen Schiffen, auf denen er bislang gefahren war. Zum Glück würde er keine Reden halten müssen. Soviel wußte er immerhin. Das war Sache des Alten. Und wenn ihn die Passagiere an Deck oder auf der Brücke ansprachen, damit würde er schon fertig werden, sagte er sich. Er war zwar nicht gerade ein Gesellschaftstier, aber auf den Mund gefallen war er auch nicht. Trotzdem fragte er sich, warum die Verantwortlichen der Reederei in Hamburg sich ausgerechnet ihn, einen halbgaren Ersten von einem uralten Containerschiff ausgesucht hatten, als Offizier auf einem Nobeldampfer auszuhelfen? Daß diese Leute ihn womöglich keineswegs für halbgar hielten, auf die Idee kam er nicht. Und schon gar nicht, daß sein Kapitän bei dieser Personalsuche seine Hand im Spiel gehabt haben könnte. Das hatte er aber gehabt, und sein Einfluß war erheblich gewesen. Aber das mußte “der Bengel“ ja nicht unbedingt wissen, hatte er den Hamburgern zu verstehen gegeben.
Also hielten sie den Mund, was das Auswahlverfahren anging. Wozu sie allerdings nicht schwiegen, war sein Erscheinungsbild. Fest davon überzeugt, zur Aushilfe auf einem Frachter aus dem Urlaub geholt worden zu sein, war Martin in seiner Frachtschiffoffiziersuniform in der Hamburger Zentrale aufgekreuzt: Jeans und Pullover. Eine Uniform hatte er natürlich auch, aber die befand sich tief unten im Koffer. Das erklärte er den Leuten in Hamburg auf deren Nachfrage, woraufhin sie ihn nachdrücklich anwiesen, beides schleunigst auszutauschen und zwar noch bevor er das Flugzeug in Hamburg bestieg. Schließlich gehe es nicht an, daß er als Offizier auf einem Kreuzfahrtschiff und Repräsentant der Reederei herumlaufe wie ein Bahnhofspenner. Der Mann hatte tatsächlich “Bahnhofspenner“ gesagt. Na, also…
Aber Befehl war Befehl, und so hatte er sich in der Lounge des Flughafens artig umgezogen und zog nun in seiner dunkelblauen Uniform die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Was ihm ganz und gar nicht behagte. Obwohl er sich auch sagte, daß er sich somit gleich daran gewöhnen konnte, im Blickpunkt der Öffentlichkeit zu stehen, wie das auf dem Schiff wohl ständig der Fall sein würde, sobald er sich außerhalb seiner Kabine befand. Und es ging auch gleich los, als ihn eine ältere Dame ansprach, ob er diesen Flug durchführen würde.
„Nein, gnädige Frau“, hatte er geantwortet und seine Mütze dabei gelupft, „ich bin kein Pilot, ich bin Seefahrer.“
Sie hatte ihn etwas indigniert angesehen und war weitergegangen.
Dann wurde sein Flug aufgerufen. Er würde den Rest dieses und den größten Teil des nächsten Tages in Flugzeugen verbringen. Zuerst von Hamburg nach München, dann weiter nach Sao Paulo und schließlich noch ein dritter Flug nach Santiago de Chile. Von dort aus ging es direkt weiter zum Hafen nach Valparaíso, wo das Schiff seit nunmehr drei Tagen an der Pier lag, unfähig, die Reise zu beginnen, mangels diensttauglicher Offiziere. Es pressierte also. Hoffentlich waren die Flüge pünktlich, und er verpaßte keinen seiner Anschlüsse.
Sie waren es. Pünktlich landete die riesige Boeing 777 der brasilianischen TAM auf dem Flughafen in Santiago de Chile. Paß- und Zollkontrolle gingen reibungslos und schnell, so daß er schon eine knappe halbe Stunde nach der Landung die Empfangshalle des Flughafens betrat, wo er in einem Meer von hochgehaltenen Schildern jenes mit dem orange-blauen Logo seiner Reederei sofort entdeckte. Auch das hatte also geklappt. Der Agent aus Valparaíso erwartete ihn schon.
In seinem rudimentären Spanisch, das er sich inzwischen angeeignet hatte, versuchte er eine Begrüßung, nur um dann zu erfahren, daß der Agent der deutschen Sprache durchaus mächtig war. Etwas holprig vielleicht, aber um etliche Male besser als er selbst des Spanischen. Somit war für ausreichende Verständigung gesorgt. Und auch für die Konversation auf der knapp zweistündigen Fahrt vom Flughafen in Santiago zum Seehafen in Valparaíso. Die hätte zwar für den maulfaulen Martin durchaus etwas weniger umfangreich ausfallen dürfen, aber immerhin war er bei der Ankunft hinreichend gut informiert über die Vorzüge des chilenischen Weißweins aus dem Casablanca Valley, in das man auf dem Weg nach Valparaíso von der Autobahn aus hineinsehen konnte.
***
Der Schock holte ihn beinahe von den Füßen. Verursacher war der Hoteldirektor des Schiffes, der ihn unten an der Gangway erwartete und mit den Worten begrüßte:
„Willkommen auf der “Hanseatic“, Herr Kapitän.“
Das selten dämliche Gesicht, daß Martin nach dieser Ansprache gemacht hatte, sollte nicht nur für reichlich Gesprächsstoff auf dem Schiff sorgen, sondern legendär werden. Den Hoteldirektor beeindruckte es jedoch nicht eine Sekunde lang. Ungerührt fuhr er fort:
„Darf ich Ihnen ihre Kabine zeigen?“
Er durfte. Jedenfalls nahm er das ganz selbstverständlich an und stieg die Gangway hinauf, ohne Martins Antwort abgewartet zu haben. Martin taumelte hinter ihm her wie ein Betrunkener, der einem Brummkreisel entstiegen war. Mit leeren Händen, denn längst hatte sich irgendjemand seines Koffers bemächtigt, ohne daß er es bemerkt hatte. Auch die Leute, Besatzung und Passagiere, die ihn nach dem Betreten des Schiffes begrüßten, sah und hörte er nicht. Also erwiderte er folgerichtig keinen ihrer Grüße.
„Na, das scheint aber ‘n komischer Kauz zu sein“, war die einhellige Meinung der Umstehenden. „Und so jung noch. Also, das kann ja was werden!“
Einen ersten Eindruck hatte Martin hinterlassen. Und keinen allzu positiven.
Noch immer völlig perplex ließ er sich in den erstbesten Sessel fallen, gleich nachdem er seine überraschend geräumige Wohnung auf dem Brückendeck betreten hatte. Der Hotelmanager fackelte nicht lange, sondern ging an einen Schrank, holte eine Flasche Cognac heraus und goß einen großzügigen Schluck davon in ein Glas.
„Hier, trinken Sie das, damit Sie sich mal wieder einkriegen, Herr Kapitän. Üblich ist sowas normalerweise nicht am hellichten Tag, aber in diesem Fall, denke ich, ist es sogar nötig.“
Er drückte Martin das Glas in die Hand. Der nahm einen kräftigen Schluck, verschluckte sich, hustete und sah dann seinen Gegenüber der inzwischen in einem der anderen Sessel Platz genommen hatte, fassungslos an.
„Soll das ein Witz sein?“ krächzte er. Der Cognac brannte noch immer in seiner Kehle. „Wenn es einer ist, dann ist er ziemlich blöde. Und wenn’s keiner ist, dann ist es immer noch völlig daneben. Ich hab gedacht, hier ist die Stelle des Ersten zu besetzen, aber doch nicht die des Kapitäns.“
Der Hoteldirektor lachte. „Ist sie ja auch. Oder sie war es, denn inzwischen haben wir einen der beiden Zweiten zum Ersten befördert. Den Kapitän konnten wir allerdings nicht ersetzen. Soweit ist noch keiner von denen. Also brauchten wir einen von außerhalb. Einen mit dem richtigen Patent. Und da ist die Wahl wohl auf Sie gefallen. Sie haben doch ein A6-Patent?“
Martin nickte. „Na klar hab ich. Sonst hätt‘ ich doch als Erster gar nicht fahren dürfen. Insofern ist das, was Sie hier mit dem Zweiten veranstalten auch nicht ganz regelkonform.“
Sein Gegenüber winkte ab. „Ach was, in der Not frißt der Teufel Fliegen. Jedenfalls stelle ich fest, Schiffchen fahren können Sie also.“
„Sicher kann ich. Aber Containerfrachter und sowas. Von einem “Fleischfrachter“ war nie die Rede. Das ist doch ganz was anderes.“
„Also bei allem Respekt, Herr Kapitän, den “Fleischfrachter“ möchte ich mir aber jetzt ganz ausdrücklich verbitten. Natürlich weiß ich um die despektierlichen Redensarten von Euch Frachtschiffern über diese, unsere Art von Transportmitteln. Aber bitte gewöhnen Sie sich daran, daß es sich hierbei um ein Kreuzfahrtschiff handelt. Und noch dazu eines, das mit fünf Sternen eingestuft ist