Der harte Engel. Adrian Plitzco. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Adrian Plitzco
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847632825
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Linie, die dem Gesicht ein Profil verliehen hätte. Das Gesicht war lediglich ein grauer, konturloser Fleck, und so schnell wie es sich ihm zugewandt hatte, verschwand es auch wieder. Eric stürzte ins Leere und landete in den Lupinen. Als er sich wieder aufrappelte, war nichts mehr von alledem zu sehen. Kein Schatten und keine Maryanne. Er blickte zum Gewächshaus hinüber, dann in die entgegengesetzte Richtung zum Nordeingang, aber dort war niemand mehr. Er lauschte, doch außer dem Lallen aus dem nördlichen Teil des Gartens und einem müden Quaken aus dem Ententeich war es still im Park.

      Eric rannte wie besessen los und stürzte in das erstbeste Dickicht von Büschen und Blumen. Er riss Äste und Zweige auseinander, kroch über den Boden und wirbelte mit bloßen Händen die vertrockneten Blätter auf, rannte zurück zum Ententeich, stapfte durchs kniehohe Wasser, durch das Schilf, so dass die Enten aufgeschreckt davonstoben.

      „Zeig dich, du Schwein! Ich bring dich um!“

      Aber der Schatten war verschwunden. Eric schwankte zurück zum Lupinenbeet. Dort ließ er sich auf die Knie fallen und schlug mit den Fäusten kraftlos auf die weiche Erde. Weinend flüsterte er Maryannes Namen.

      Sein Anzug war zerrissen von den Dornen eines Rosenbusches, auch im Gesicht und an den Händen hatte er Kratzer abbekommen und sein Fuß schmerzte. Frau Oldenburg hatte ihn davor gewarnt, einzugreifen. Und sie hatte Recht. Er hatte die Chance, den Mörder zu identifizieren, vermasselt, nur weil er sein Temperament nicht zügeln konnte. Doch das unerwartete Wiedersehen mit Maryanne hatte ihn überwältigt, und er hatte nicht hilflos mit ansehen wollen, wie sie ein weiteres Mal umgebracht wurde. Er humpelte über den Rasen zum Nordeingang. Der Betrunkene lag noch an derselben Stelle. Eric stieß ihn sachte mit dem Blindenstock an.

      „Haben Sie jemanden im Park rumgehen sehen?“, fragte er ihn, obwohl er wusste, dass er keine vernünftige Antwort zu erwarten hatte.

      Der Betrunkene blickte aus glasigen Augen zu ihm hoch. „Fahr zur Hölle“, antwortete er und wandte seinen Blick wieder dem nächtlichen Himmel zu.

      Über das Tor zu klettern fiel Eric schwer, denn diesmal protestierte sein Fuß mit stechenden Schmerzen. Auch das Gehen auf dem harten Straßenpflaster bereitete ihm Mühe, und er wählte den kurzen Weg zur Brighton Road, um dort in ein Taxi zu steigen.

      Von all den viertausend Taxis, die Melbournes Straßen blockierten, wartete ausgerechnet dieses eine am Taxistand: dasselbe schäbige Taxi, in das Eric vor zwei Tagen in der Spencer Street Station eingestiegen war. Derselbe stinkende Taxifahrer. Aber es war zu spät, um umzukehren.

      Der Taxifahrer hatte das Fenster bereits heruntergekurbelt und rief Eric zu: „Sieh einer an. Der Schriftsteller. Auf der Suche nach spannenden Geschichten so spät in der Nacht?“ Doch als er sah, in welchem Zustand Eric sich befand, stieg er aus und nahm Eric am Arm. „Was ist denn mit Ihnen passiert? Hat man Sie zusammengeschlagen?“

      „Zwei Männer haben mich überfallen“, sagte Eric und wunderte sich gleichzeitig, wie leicht und unbedacht er diesen Menschen anlügen konnte. Vor zwei Tagen war ihm nicht aufgefallen, wie klein der Taxifahrer war. Im Fahrersitz hatte nichts darauf hingedeutet, dass er zwergwüchsig war. Doch seine Beine waren so kurz, dass man sich fragte, wie zwischen Hüfte und Fußgelenk ein Knie Platz haben konnte. Er öffnete Eric die Beifahrertür.

      Bevor er sich dagegen wehren konnte, war der Taxifahrer bereits auf seinen Sitz gesprungen, hatte die kurzen Beine auf die verlängerten Pedale gestellt und war losgebraust: „Wohin soll es gehen? Nach Hause?“

      „Ja, bitte. Park Lane. St. Kilda.“

      „St. Kilda ist mein Revier. Zigarette?“

      Eric nahm dankbar an, in der Hoffnung, der Rauch würde den Uringestank übertünchen. Auch der Taxifahrer rauchte; die Hand locker am Steuerrad, jagte er den Wagen mit hoher Geschwindigkeit über die Bodenwellen, mit denen die Wohnstraßen gepflastert waren. Dass das Fahrgestell an den ausgeleierten Stoßdämpfern dabei jedes Mal hart aufschlug, schien ihn nicht zu kümmern.

      „Sie sind bestimmt ein Albaner.“

      „Wie kommen Sie darauf?“, fragte Eric erstaunt.

      „So, wie Sie aussehen. Weiße Haut, Sonnenbrille, Blindenstock. Na los, ehrliche Antwort. Sind Sie Albaner oder nicht?“

      Eric begriff, was der Taxifahrer meinte. Doch anstatt ihn zu belehren, beließ er es dabei. „Ja, ich bin Albaner. Durch und durch.“

      „Wusst ich’s doch“, platzte es aus dem Taxifahrer heraus, „ich wusste es von Anfang an. Ich bewundere Leute wie Sie. Ich denke, dass es viel Mut braucht, so völlig blind auf die Straße zu gehen.“

      „Ich bin nicht völlig blind. Ich sehe alles, wenn ich nah genug rangehe.“

      „Den beiden Männern sind Sie wohl auch zu nahe rangegangen, was?“ Der Taxifahrer lachte und schlug mit beiden Händen aufs Steuerrad.

      Plötzlich klappte beim Überfahren einer Bodenwelle mit einem dumpfen Klack die Motorhaube auf und blockierte die Sicht. Der Taxifahrer bremste scharf, stieg fluchend aus und knallte die Haube zurück in die defekte Verriegelung. Als er auf seinen Sitz zurück kehrte, sagte er: „Jetzt weiß ich es, sie sind der Boss von der Frau, die im Botanischen Garten abgemurkst wurde!“

      „Ihr Ehemann“, korrigierte Eric ihn.

      „Sag ich doch.“ Er schlug sich an die Stirn und lachte. „Dann sind Sie ja gar kein Schriftsteller, sondern Architekt. Sie bauen Brücken, stimmt’s? Sie haben mir ja einen schönen Bären aufgebunden. Wissen Sie was? Sie gefallen mir.“ Er versetzte Eric einen zärtlichen Faustschlag an den Oberarm. „Den Mörder hat man noch immer nicht gefunden, wie? Wenn man sich vorstellt, dass der frei rumläuft, nur weil die Polizei zu blöd ist, ihn zu schnappen. Dabei erkennt man einen Mörder zehn Meter gegen den Wind.“

      Eric warf die abgerauchte Zigarette aus dem Fenster. „Und woran?“

      „Na, an den Augen. Ein Mörder sieht dich aus unschuldigen Augen an. Doch dahinter, da versteckt sich Überheblichkeit. Ein Mörder bildet sich nämlich ein, allmächtig zu sein. Weil er einmal jemanden umgelegt hat, glaubt er die Welt zu beherrschen.“

      „Und Sie können die Überheblichkeit sehen?“

      Der Taxifahrer lächelte. „Wäre ich Polizist geworden, ich wäre der erfolgreichste aller Zeiten. Mir würde kein Einziger entkommen.“ Er machte eine abschätzige Handbewegung, stopfte seinen Zigarettenstummel in den vollen Aschenbecher und zündete sich eine neue an. „Ist aber nicht mein Kaliber. Ich und die Polizei, das verträgt sich nicht. Ich verstehe bis heute nicht, warum ich denen damals einen Tipp gegeben habe. Glauben Sie vielleicht, die haben darauf reagiert?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hätte genauso gut einen Brief an einen blinden Esel schreiben können.“

      „Was für einen Tipp?“, unterbrach ihn Eric.

      „Dass ich den Mörder gesehen habe.“

      „Welchen Mörder?“

      „Na den, der Ihre Frau erstochen hat.“

      Eric starrte den Taxifahrer verblüfft an. „Sie haben den Mörder meiner Frau gesehen?“

      „Ja, vor zwei Jahren. Eigentlich müssten Sie ihn auch gesehen haben. Er stand vor Ihrem Haus und glotzte zur Wohnung hoch. Ein Typ mit langen schwarzen Haaren.“

      „Vor meinem Haus?“, wiederholte Eric. „Vor meinem Haus standen Dutzende von Leuten, nachdem die Presse meine Adresse bekannt gegeben hatte.“

      Der Taxifahrer erzählte unbeirrt weiter. „Ich kam damals vom Hafen, und weil die Beaconsfield Parade verstopft war, fuhr ich den Umweg über die Park Lane. Aber auch die war verstopft, also musste ich im Schritttempo fahren, und als ich auf der Höhe von ihrem Haus war, ist er mir sofort aufgefallen. Unsere Blicke haben sich getroffen. Klick hat’s da oben gemacht und mir war alles klar.“

      Eric erinnerte sich, dass die Polizei mit ähnlichen Tipps regelrecht überschwemmt worden war. Der Unbekannte, den Maryanne zuletzt gesehen haben soll, hatte plötzlich tausend Gesichter. Doch sämtliche