Der Leuchtturmwächter. Edi Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Edi Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643739
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so etwas wie Viehzucht möglich war. Aber nicht dieser Umstand lässt mich aufmerken, sondern das gesamte Bild, die Anordnung als solche, wie sie hier vor mir erscheint. Ich kenne es schon. Das Bild, genau so wie es hier vor mir liegt, ist bereits in meinem Erinnerungsspeicher abgelegt. Saß ich nicht gestern auch schon hier, den fast leeren Wasserschlauch um ein paar Tropfen erleichternd und dabei diese beiden Objekte betrachtend? Ja, eindeutig, das scheinbare Grinsen des mir zugewandten und die Ausdruckslosigkeit des seines Unterkiefers beraubten ihm gegenüberliegenden Schädels kenne ich schon. Deja-vu. Festsitzend in einer Endlosschleife des Lebens, das mir den ewigen Tod widerspiegelt. Vielleicht bin ich ja schon tot, gefangen in einem ewigen die Vergänglichkeit widerspiegelnden Kreislauf.

      Dass alles schon da ist, sozusagen als Möglichkeit, bevor es in mein Erscheinungsbild tritt, leuchtet mir ja noch ein. So etwas wie ein unendlicher Pool der Möglichkeiten, aus dem der jeweilige Augenblick geschöpft wird, den ich gerade zu erleben scheine. Oder den ich durch das Erleben in Erscheinung bringe. Aber sich ereignende Wiederholungen scheinen ein neues Phänomen zu sein. Und dem Gesetz der momentanen Negativserie folgend wählt es sich natürlich eine Szene, die mir einmal erlebt vollauf genügen würde.

      Wahrscheinlich ist es aber nur das unter der Hitze leidende Hirn, das sich zu ein paar Fehlschaltungen hinreißen lässt. Verwunderlich wäre dies nicht, der grüne Bereich für ein ordnungsgemäßes Funktionieren ist bestimmt längst überschritten. Halbwegs durch diese Argumentation beruhigt kann das gerade erlebte Deja-vu Ereignis von der Rubrik “besorgniserregend“ über “unbegreiflich“ nach “erledigt“ verschoben werden. Interessant zu beobachten wie der Verstand mit solchen Phänomenen umgeht. Auch er kann es sich manchmal leicht machen, obwohl er sich sonst meist für die Schwere verantwortlich zeigt.

      Was folgt ist der angestrengte Versuch die hypnotisierende Faszination, die diese Schädel auf mich ausüben, zu unterbrechen. Totes Gebein das mir die Sinne verwirrt. Das Gefühl einer sich noch nicht erschließenden tieferliegenden Bedeutung lässt sich kaum unterdrücken. Zwei Todessymbole, die mir zwei mal hintereinander begegnen. Der Verstand ist sofort wieder hellwach und kramt nach verborgenen Bedeutungen und Erklärungen. Da war doch was mit Zahlenmystik, mit Symboldeutungen... „Aus Eins wird Zwei, aus Zwei wird Drei, und das Eine des Dritten ist das Vierte; so werden die zwei eins“. Nein, das ging anders. „Die Eins wird zur Zwei, die Zwei zur Drei, und aus dem Dritten wird das Eine als Viertes“. Oder doch ganz anders? „Aus zwei...“

      Schluss, für solche Spielchen ist jetzt wahrlich nicht die rechte Zeit. Auch wenn der Verstand anderer Meinung ist. Gewaltsam reiße ich mich (wer?) von der ganzen Szene los. Beim nach-oben-blicken offenbart sich der ganze Choral in einer Art weitläufigem Krater liegend. Kein Wunder dass es mir immer heißer wird, Kessel sind bekanntlich dafür da, um darin zu kochen. Allerdings könnte ich gut und gerne darauf verzichten, selbst darin zu sitzen und mitgekocht zu werden. Und wieder gibt der Verstand ungefragt seinen Kommentar dazu ab, wobei er mir diesmal allerdings ein lautes Auflachen entlockt: „Sei auf der Hut wenn du von einem Kannibalen zum Mittagessen eingeladen wirst...“.

      Ein wiederholtes Aufraffen ist angesagt. Ohne lange darüber nachzudenken greife ich mir einen der beiden gehörnten Schädel, wahrscheinlich weil er mir sympathischer erscheint den grinsenden, um der Falle eines erneuten Deja-vu zu entgehen. Die etwas seltsame Überlegung des Verstandes geht dahin, dass wenn das Gesamtbild verändert wurde man nicht mehr in dem vorherigen auftauchen kann. Keine Ahnung ob das stimmt, aber ein drittes Mal möchte ich die Szene nicht mehr erleben müssen.

      Nach einem tiefen Durchatmen scheint der Organismus bereit, sich dem nicht allzu weit entfernten Kraterrand entgegen zu schleppen. Die Seite mit der flachsten Steigung wählend gelingt der Aufstieg dann auch relativ mühelos. Als der von einer zerfallenen Steinmauer gekrönte Grad schließlich erreicht ist eröffnet sich ein grandioses Panorama vor mir. So ähnlich muss es Moses ergangen sein, als er auf das gelobte Land blickte. Vierzig Jahre Wüste lassen halt doch die Fülle des Lebens vergessen. Na ja, hier waren es ein paar Tage weniger, doch wie ein Wunder kommt mir das sich weit vor mir ausbreitende Land trotzdem vor. Ergriffen lasse ich mich auf den Mauerresten nieder, um dieses unerwartete Bild wie Labsal in mein ausgedörrtes Inneres fließen zu lassen.

      Grüne Vegetationsflecken, üppiges Leben verheißenden Oasen gleich, mischen sich in die monotone steinige Wüstenlandschaft. Sich anfangs noch zwischen den kahlen Hügeln versteckend breiten sie sich weiter aus, um schließlich die ganze weite Ebene bis zum Horizont einzunehmen. Grün, die Farbe der Hoffnung, der Inbegriff des Lebens. Erst jetzt, nachdem es so unverhofft vor mir erscheint wird mir klar, wie sehr ich es vermisst habe. Ein silbern glänzendes Band schiebt sich zwischen die hintere Grenze dieser grünfleckigen Landschaft und dem darüber aufsteigenden weissgefleckten Blau des Himmels. Zwei übereinanderliegende Fleckenteppiche, getrennt oder vereinigt durch dieses intensiv schimmernde Geschenkband. Der Horizont scheint sich von einer bloßen Linie zu einem breiten Band gemausert zu haben. Was es damit wohl auf sich hat? Zuerst noch verwundert und etwas verwirrt über diese ungewohnte Erscheinung wird mir schlagartig klar das Meer zu sehen. Ja, eindeutig, da liegt er im flimmernden Licht der Mittagssonne. Der Ozean. Erinnerung, Hoffnung und Zuversicht zugleich. Zwar noch in weiter Ferne, doch immerhin sichtbar und meiner weiteren Wanderung wenigstens eine grobe Richtung vorgebend.

      Lange hält dieser Zustand der Glückseligkeit nicht an, denn ein etwas bedrückender Gedanke bahnt sich unerbittlich einen Weg ins Bewusstsein. Moses selbst war es nicht vergönnt, ins gelobte Land zu gelangen. Ihm war es nur bestimmt, sein Volk dahin zu führen. Ich habe zwar kein Volk hinter mir, aber meine momentane Situation berücksichtigend scheint der Zweifel, es bis zur Küste zu schaffen, mehr als berechtigt. Vielleicht hatte der Schafbock ein Volk, das er bis hierher führte und das dann ohne ihn weiterzog. Ihm verspätete Genugtuung verschaffend lege ich ihn, mit dem Blick zum Meer, auf die Mauerkrone. Ob nun diese Geste dafür verantwortlich ist oder auch nicht, auf jeden Fall scheinen sich neue Kräfte zu mobilisieren und ich beginne den Abstieg.

      Welcher sich dann allerdings als nicht so einfach gestaltet. Aber wie sagte schon der Dachdecker? Runter geht es immer. Mich auf direktem Weg hinabzustürzen traue ich mich dann doch nicht, da mir der Abhang viel zu steil dafür vorkommt. Also wird er, viele Umwege in Kauf nehmend, serpentinenartig bewältigt. Dummerweise scheint dieses schräg am Hang laufen extrem die Gelenke zu belasten, so dass eine frühzeitige Erholungspause notwendig wird. Die strapazierten Beine fordern ihr Recht ein, was ich ihnen auch gerne gewähre. Da sie momentan die ganze Hoffnung des Vorankommen tragen möchte ich das unnötige Risiko einer Überbelastung nicht provozieren. Vorankommen, irgendwo hin kommen, ein Ziel erreichen... längst überwunden geglaubte Dinge rücken plötzlich mit gewaltiger Macht ins Dasein.

      Eine Felsplatte, die über einem dieser zahlreichen, nun immer breiter und tiefer sich in den Berg gefressenen Gräben hängt, bietet etwas Schutz vor der voll auf den Abhang knallenden Sonne. Das schiefergraue Gestein mit seiner reflektierenden Wirkung bildet ein perfektes Solarium. Ich habe schon von Menschen gehört die Geld für den Besuch einer solchen Einrichtungen bezahlen. Seltsame Gepflogenheiten, seltsame Menschen.

      Mich in diese kleine schattenspendende Grotte hineinzwängend halte ich Ausschau nach Hanghühnern, die in dieser Gegend eigentlich heimisch sein müssten. Hanghühner, von der Natur mit zwei unterschiedlich langen Beinen ausgestattet, so perfekt dem Leben an Berghängen wie diesem angepasst. Allerdings macht sie diese anatomische Besonderheit auch zu einer leichten Beute, wenn man ihre zweite Eigenart auszunutzen weiß. Sie sind nämlich von Natur aus penetrant neugierige Wesen. Um eines von ihnen zu fangen schleicht man sich also von hinten an, ruft im geeigneten Augenblick „Hey, Hanghuhn“, worauf es sich, seiner Neugier nicht widerstehen könnend, umdreht. Der Beinwechsel bewirkt ein sofortiges umkippen des Federviehs, worauf es vom Jäger nur noch eingesammelt werden muss.

      Nachdem mich die Lebensgeister einer nach dem anderen zu verlassen scheinen, was ich ihnen nicht verübeln kann, denn es gibt weiß Gott angenehmere Aufenthaltsorte, scheint mir als letztes der Humor zu bleiben. Auch wenn es sich in dieser Situation wohl eher um Galgenhumor handelt. Oder der Verstand sucht Zuflucht in der Verrücktheit, der letzten Bastion angesichts seiner immer deutlicher zu Tage tretenden Hilflosigkeit. Nicht der übelste Ort, wie ich zu meiner eigenen Verwunderung feststellen muss.

      Mit einer bewussten Anstrengung bringe