Justine la Mour
Meditatives Schießen
Erzählungen
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Max Ernsts Seelenfrieden oder Rosa Kakadufeder mit rotem Lederhandschuh
Helles Schweigen, roter Wüstenstaub, blaue Erinnerung
Grüngrauer Fluss, rosaroter Himmel, schwarzweiße Haut
Das Feld hat Augen, der Wald hat Ohren
Petits Fours mit kandierten Kirschen
Schneewittchen und Goldlöckchen oder Keinen Tag älter als in der Zukunft
Max Ernsts Seelenfrieden oder Rosa Kakadufeder mit rotem Lederhandschuh
Als Max Ernst mit Peggy Guggenheim im Arm durch Lissabon spazierte, an einem hellen sonnigen Morgen im Mai hatte Leonora Carrington ihn schon lange tot geglaubt. Sein Tod war ihr so gegenwärtig, so sicher, so unverrückbar gewesen, dass ihr die Vorstellung surreal erschien, er wäre noch am Leben.
Sie hatte in den letzten Monaten einen Traum gehabt, in dem er ertrunken war und so konnte sie sich gar nichts anderes mehr vorstellen als das Bild seines Todes. Ein Unfall mit einem roten Lederhandschuh war schuld, sie sah ihn vor sich, immer wieder, ihr roter Lederhandschuh, sie sieht ihn noch jetzt jeden Tag vor sich, groß, unüberwindlich vor ihrem Gesicht.
Auf seiner Stirn sah sie zuletzt schwarze Striche wie mit Tusche gezeichnet, Tätowierungen. Die letzte Erinnerung an sein Gesicht glich einem Portrait, das er selbst 1938 angefertigt hatte, Autoportrait, Frottage, Kreide auf Foto, schwarzweiß , eine zehn Jahre alte Fotografie, von der er einen Ausschnitt schräg vergrößern ließ. Die mit Kreide durchgeriebenen Strukturen umschlingen sein Gesicht wie Barthaar, legen sich wie ein Schleier davor und gleichen in ihrem Liniengespinst Schriftkürzeln. Es ist, als habe sich die Natur wie eine Tätowierung in die dünne Haut eingeschrieben, die Augen tauchen ab in eine Unterwelt jenseits der Fotografie. Fremde Zeichen, Hieroglyphen, nicht entschlüsselbar, ein Schmuck oder eine Verletzung, sie weiß es nicht. Wenn sie an ihn denkt, denkt sie an das Bild von ihm, es ist untrennbar mit ihm verknüpft, sein Gesicht existiert nicht mehr ohne dieses Bild.
Da sie fest davon überzeugt war, die Fantasie sei schlimmer als die Realität, hatte sie sich nie davor gefürchtet, später in den Zeitungen von Max Tod zu erfahren oder über gemeinsame Freunde davon zu hören. Aber niemals wäre sie auf den Gedanken gekommen, er könne noch leben und erst recht nicht mit einer anderen Frau als ihr selbst.
Als Max Ernst im Jahre 1941 mit Peggy Guggenheim an der Hand den über die Ufer getretenen Tejo betrachtete, weniger mit Sorge als vielmehr aus rein künstlerischem Interesse, war Leonora Carrington gerade aus einem langen Schlaf mit Träumen erwacht, in denen sie und Max miteinander rangen, rote Lederhandschuhe den Besitzer wechselten und Wassermassen die Ufer von Flüssen überschwemmten. So glaubte sie zu träumen, als sie dem Paar begegnete, es schien ihr, als seien die Figuren aus ihrem Unterbewusstsein noch nicht wieder verschwunden.
Max hielt Peggy Guggenheim an der Hand oder vielmehr sie hielt ihn an der Hand, in der anderen baumelte ihre rosa Chaneltasche, seine Hände waren feucht und überhitzt und als er Leonora sah, glaubte er sich ebenso wie seine frühere Geliebte in einem Alptraum, den ihm die Erinnerung als Trugbild vorsetzte.
Die Dame, die ihm entgegenkam, wirkte wie eine Wiedergängerin der Frau, die er geliebt hatte, sie war es, sie musste es sein, sie war kein Vexierbild. Sie trug einen rosa Hut mit einer Vogelfeder, die er nicht genau erkennen konnte, sich aber sogleich sicher war, sie stammte von seinem rosa Kakadu Homeborn, der in derselben Nacht gestorben war als seine kleine Schwester geboren wurde.
Vogelmenschen malte er seither immer wieder, und doch, der rosa Kakadu, der damals hart und steif in seinem Käfig gelegen hatte, ihn hatte er nie vergessen. Und nun diese Feder, ganz sicher die seines Kakadus, es musste seine Feder sein, rosarot, die Feder aus seiner Erinnerungsschublade, in der er alles aufbewahrt hatte, was an Vergangenheit noch Wert besaß für ihn. Und wenn es diese Feder war, dann war es auch diese Frau, seine Geliebte, Leonora, die sie auf ihrem Hut trug, konnte es nur Leonora sein, seine Leonora, die Leonora, seine Windsbraut.
Hatte der Sturm der Zeiten, der durch ihre Leben hindurch geweht war auch sie in diese Stadt getrieben? Die Trümmerstücke an Erinnerungen begannen anfangs ihn zu überschwemmen, später rückten sie weiter fort, die Flüsse der Erinnerungen trockneten aus und hinterließen ein Brachland, eine Wüste aus Staub, in der nichts mehr wuchs.
Seine Windsbraut Leonora, sie war eines Tages verschwunden, tauchte nicht mehr auf, weder in seinen Träumen noch in seinen Bildern, und er hatte geglaubt, sie niemals mehr wieder zu sehen. Ihre Angst vor den Verfolgern, ihre Angst, in ein Internierungslager zu kommen, ihre Ängste überall, sie waren verschwunden mit Peggy.
Peggy Guggenheim, die Lady mit der achteckigen schwarzweißen Brille und den rundherum pragmatischen Ansichten, sie rückte Max zurecht. Manchmal hatte er geradezu das Gefühl, sie nähme seinen Kopf in die Hand und drehe ihn auf die andere Seite, wenn sie wollte, dass er die Dinge von einer anderen Richtung betrachten sollte. Er fühlte sich wie ein Schuljunge in ihrer Gesellschaft und doch war er glückselig über ihre ernstgemeinte Heiterkeit, die ihn weiterleben ließ.
Ihre Augen blitzten, sie schwenkte die Chaneltasche hin und her wie ein kleines Mädchen, übermütig, sorglos, als könnten ihr die Kriegswirren und das Vagabundieren durch die Kontinente nichts anhaben, als fürchte sie sich vor nichts, nicht vor den Deutschen, nicht vor jungen Liebhabern, nicht vor der Ehe und nicht vor dem Tod.
Mein kleiner Pinsel! Du bist wie diese Menschen, die überall Schmerzen haben für die es keine organische Ursache gibt, du empfindest seelische Qualen, die nicht real sind, sie sind nur Erscheinungen, sie schmerzen nicht wirklich. Komm zu dir und lebe, male, schreibe. Think pink! Ein ganzes Jahr sollte er mit ihr verheiratet bleiben, ein ganzes langes Jahr mit Peggy, dann würde sie fortgehen, um für den Rest ihres Lebens in Venedig zu lustwandeln. In seinem Gedächtnis blieb später nur ihr Lachen zurück, frei und offen, so laut, dass er manchmal glaubte, er würde taub davon wenn sie ihm zu nahe war.
Wie viele Liebhaber mochte sie gehabt haben vor ihm, wie viele nach ihm? Das fragt man eine Dame nicht, darüber spricht man nicht mit einer Dame, und Peggy war eine Dame, das stand außer Frage. An fast alles hatte er sich gewöhnen können, nur nicht an die Anrede „mein kleiner Pinsel“, das ging gegen seine Ehre, er wurde jedes Mal rot, wenn sie es sagte, ließ ihre Hand los, lief davon in die andere Richtung, als könne er sie so abhalten weiter zu sprechen, doch alles, was er auslöste, war ein gewaltiger Lachanfall,