Stefan Raile
Im Bannkreis er Erinnerung
Geschichten gegen das Vergessen
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Inhaltsverzeichnis
ÜBER SIÓFOK NACH VASKÚT
An jenem Augusttag 1991 sind wir nur langsam über die Grenze gekommen. Bereits hinter Bratislava haben wir im Schritt fahren, wieder und wieder anhalten müssen. Erst vor Rajka wird der Verkehr flüssiger. Obwohl mir die Orte, die wir passieren, unbekannt sind, erscheinen sie mir vertraut. Erinnern sie mich an Vaskút?
Seit unsrem Entschluss, Teris freundliche Einladung anzunehmen und mein Heimatdorf aufzusuchen, habe ich oft daran gedacht, glaubte ich manchmal, seine breiten, staubigen Straßen und die farbig getünchten, von Akazien oder Maulbeerbäumen beschatteten Häuser so deutlich vor mir zu sehen, als wären wir erst vor kurzem mit unsren Bündeln im Güterwaggon abtransportiert worden.
Bei Balatonfüzfö erblicken wir zum ersten Mal den See, meinen, fast am Ziel zu sein. Aber bald danach geraten wir in einen Stau … Auch in Siófok vor, neben, hinter uns Auto an Auto. Könnte ich doch aussteigen und den letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen, unbeschwert wie beim ersten Aufenthalt, durch die stillen, baumbestandenen Straßen gehen. Mehr und mehr begreife ich, dass es nirgendwo ruhig ist. Überall brummen, dröhnen, knattern Motoren, auch auf der Petöfi sétány, wo ich die Hotelreihe suche – und einen Parkplatz.
Die Formalitäten an der Rezeption sind rasch erledigt. Wir fahren im Lift nach oben. Unsre Zimmer sind bescheiden möbliert und wirken arg abgenutzt. Auf der Loggia atme ich tief durch. Endlich, denke ich, blicke zum zartblauen See und hoffe, dass es schön bleibt, damit in den nächsten Tagen möglich wird, was wir uns wünschen: ausruhen, Sonne und Wasser genießen, mit den Kindern baden und spielen, auf den Besuch in Vaskút einstimmen.
Nachts bricht ein Sturm los, die Bäume ächzen, Regen peitscht auf unsre Loggia, der Balaton rumort und tost gegen die Mole. Am Morgen ist es kühl und immer noch stürmisch, über den See rollen gewaltige Wellen, auf den Gehwegen kollern leere Getränkedosen, wirbeln Plakatfetzen. Nur die Platanen scheinen unversehrt. Wie lange mögen sie schon die Straßen säumen? Imre Kálmán, der Operettenfürst, für den in seinem Geburtshaus eine Gedenkstätte eingerichtet ist, hat sie mit Sicherheit schon als Kind erlebt. Mich beeindrucken sie wie beim ersten Aufenthalt, sie sind mir am deutlichsten in Erinnerung geblieben. Natürlich erkenne ich auch Häuser, Hotels, Csárdas und Anlagen wieder, aber ich erfasse, dass sich in den verflossenen zwanzig Jahren sehr viel verändert hat.
Wir entdecken zahlreiche Biergärten, wo es Holsten, Reininghaus, Gösser, Puntigamer gibt, an jeder Ecke wirbt man für Erotikmassagen, Striptease und ein verheißungsvolles Nachtleben. Die Auswirkungen bekommen wir zu spüren: Bis in die Morgenstunden hallt laute Musik aus Bars, Klubs und Restau-rants, danach grölen die Heimkehrenden, trunken vom Glauben, durch Alkohol, aufreizende Rhythmen und heiße Verführungen den Frust eines Jahres abgestreift zu haben. Wie lange wird die trügerische Beschwingtheit anhalten?
Beim Frühstück finden wir, da wir immer zu den Ersten gehören, mühelos einen günstigen Tisch und genießen den sorglosen Tagesbeginn. Abends wird es schwieriger. Aber wenn wir erst mal sitzen, unsre Blicke über den weiten, glänzenden See schweifen lassen, dem Keyboardspieler zuhören, der unverdrossen Operettenlieder singt,