Familie Kuckuck wandert aus. Sabine Engel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Engel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742729385
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verschlafen aus dem Wagen. „Sind wir endlich da?“

      „Fast, mein Kleiner“, antwortet Bea und grinst mich an. „Jule, komm besser aus dem Regen. Der scheint dir nicht zu bekommen.“ Sie schnappt sich zwei Koffer und folgt unserem Fahrer ins Hostel.

      Mein Jüngster ist bereits wieder eingeschlafen, sodass ich ihn wie früher aus dem Auto hebe und die Stufen bis zum Eingang hinauftrage. Sein Körper schmiegt sich an meinen, und warmer, feuchter Atem pustet mir in den Nacken.

      Vielleicht hat Bea ja recht. Manchmal bin ich viel zu verspannt. Dabei ist doch gar nichts Schlimmes passiert. Ich habe drei wundervolle, gesunde Kinder, einen verständnisvollen Mann und die beste Freundin, die man sich vorstellen kann. Statt irgendwo in einer stickigen asiatischen Metropole zu hocken, machen wir eben in Vancouver unseren Zwischenstopp. Beautiful British Columbia im Regen. Sei es drum. Morgen, wenn wir ausgeschlafen sind und ich einen starken Kaffee getrunken habe, sehen wir weiter. Jetzt will ich nur noch eines: duschen und schlafen.

      Während wir auf unseren Zimmerschlüssel warten und Bea freiwillig mit Janas Hilfe die Formulare ausfüllt, sitze ich mit Tim auf dem Schoß auf einem Sofa in der Lobby und schreibe Björn eine kurze Nachricht. „Unplanmäßiger Zwischenstopp in Vancouver. Brauche Geburtsurkunden der Kinder und Einverständniserklärung von dir für die Weiterreise.“

      „Vancouver??? Dachte, ihr wolltet über Bangkok fliegen“, kommt umgehend die Antwort. „Was in aller Welt macht ihr in Kanada?“

      Tja, wenn ich das nur wüsste.

       Ein neuer Plan

      Die notarielle Beglaubigung von Björns Einverständniserklärung allein braucht zwei Tage, weitere drei Tage dauert der Versand quer über den Atlantik bis nach Vancouver. Doch noch vor dem Frühstück des fünften Tages ist der Brief endlich da. Als ich die Treppe hinab zum Speisesaal laufe, entdecke ich den FedEx-Boten am Tresen der Rezeption. Wenig später halte ich die Dokumente in der Hand, vollständig und mit einer lustigen Grußkarte von Björn. Endlich geht es weiter.

      Wie sich herausstellt, ist British Columbia oder BC, wie die Einheimischen es liebevoll nennen, die westlichste Provinz von Kanada und somit gar kein schlechter Ausgangspunkt für einen Flug nach Australien. Außerdem regnet es nicht immer. Zumindest nicht im Sommer.

      „Sagen wir, es hätte uns schlimmer treffen können“, stelle ich fest und nehme Tim die Cornflakes ab.

      „So gefällst du mir schon besser.“ Bea mustert mich über den Rand ihrer Kaffeetasse. „Die letzten Tage habe ich mir wirklich Sorgen um dich gemacht.“

      Dabei habe ich mich so bemüht, meinen Frust hinter meinem Lächeln zu verbergen und statt zu murren, brav hinter meinen Kindern und Bea her zu trotten, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, innerhalb der kürzesten Zeit alle Highlights von Vancouver abzugrasen. Einen halben Tag habe ich artig im Museum of Anthropology die Totempfähle der Haida People bewundert, bin nun bestens bewandert in ihrer Mythologie und kenne die Geschichte des schlauen Raben fast auswendig, der einst die Menschen aus ihrer engen Muschel hinaus in die weite Welt lockte. Zugegeben, beim Anblick des großen Holzbären mit den freundlichen Grinse-Lippen und den dicken schwarzen Brauen verflüchtigte sich meine Anspannung tatsächlich vorübergehend, meldete sich jedoch noch am selben Nachmittag zurück, als ich Tim und Jana über wackelige Hängebrücken durch die Baumwipfel des Botanischen Gartens folgen musste. Ich hätte nichts dagegen gehabt, mit Bea zu tauschen, die mit Stina am Boden warten durfte.

      Anderentags waren wir im Space Center und Planetarium, dessen Eingang, der Himmel weiß warum, eine futuristische Krabbe in Kampfstellung bewacht. Wir sind in China Town durch wunderliche chinesische Apotheken gestreift, vorbei an Regalen mit Dingen, von denen ich nicht einmal sagen könnte, ob es sich um verdorbene Früchte oder getrocknete Lebewesen handelt, und ich habe in der folgenden Nacht Stina getröstet, die ihre Eindrücke zu fürchterlichen Albträumen verarbeitet hat. Wir haben moderne Kreuzfahrtschiffe gesehen und die alte St. Roch bewundert, die als erstes Schiff die eisige Nord-West-Passage durchsegelte. Hinter Bea, meinen Kindern und Horden von Touristen bin ich durch Gastown geschlendert, Vancouvers gerade mal hundert Jahre alte Altstadt, habe in English Bay Eis gegessen und die Robson Street erkundet.

      Okay, ich gebe es zu, Vancouver ist schön, besonders wenn die Sonne hinter den Wolken hervorlugt. Aber jetzt reicht es mir.

      „Willst du nach dem Frühstück mit den Kindern zum Strand gehen, während ich mich um die Flugtickets kümmere?“, schlage ich nun vor.

      Bea sieht mich entrüstet an. „Nein, Jule, da helfe ich dir natürlich. Wo ist denn das nächste Reisebüro?“ Sie schaut mich an, als würde sie tatsächlich erwarten, dass ich die Antwort wüsste.

      „Das Hostel hat freies WLAN.“ Ich deute in Janas Richtung, die, seitdem sie ihren Muffin in aller Eile verputzt hat, mit ihrem Handy verschmolzen ist und vermutlich gerade die neuesten Fotos unseres ungeplanten Umwegs mit ihren Freundinnen teilt. „Ich versuche es erst mal übers Internet. Ich werde mir gleich einen zweiten Kaffee holen, mich mit meinem Tablet in eines der Sofas da drüben kuscheln und mit der Fluggesellschaft chatten. Vielleicht können wir die Flüge irgendwie umbuchen oder so. Immerhin sind wir den letzten Teil der Reise bis nach Victoria gar nicht angetreten.“

      „Bist du dir sicher, dass ich dir nicht dabei helfen soll? Wir sind in einem fremden Land. Da weiß man nie.“ Bevor ich antworten kann, winkt Bea einer Kellnerin. „Please, mehr Kaffee, here!“

      „Ganz sicher“, seufze ich und hoffe, dass sie sich auf dem Weg zum Strand nicht verläuft. Sonst ist sie auf Jana angewiesen, deren Englisch hoffentlich ausreicht, um nach dem Weg zurück zu fragen.

      Während Bea und die Kinder zum Strand aufbrechen, versinke ich in einem der tiefen Polster und versuche mein Glück bei der Airline. Leider ohne Erfolg. Eine Chat-Option gibt es nicht, also greife ich zum Telefon. Nachdem ich mich per Tastendruck durch das Menü navigiert und volle dreizehn Minuten in der Warteschleife fürchterliches Gedudel ertragen habe, spreche ich endlich mit einem echten Menschen. Leider kann mir dieser nicht helfen. Dass wir den Weiterflug von Vancouver nach Victoria verpasst hätten, findet er zwar bedauerlich, will uns deswegen jedoch noch lange nicht die ungenutzten Tickets nach Victoria BC gegen neue Flugscheine nach Australien eintauschen. Er wünscht mir dennoch einen schönen Tag und legt einfach auf.

      Etwas benommen starre ich auf den Hörer und weiß im ersten Moment nicht, was ich tun soll. So etwas wäre mir früher nie passiert.

      Dreizehn Jahre Mutter-Sein haben mein altes Ich einfach zernagt. Früher war ich anders. Selbstbewusst und voller Tatendrang. Aber dann kamen die Kinder. Und plötzlich drehte sich mein ganzes Leben nur noch um die Familie. Wie selbstverständlich wurden Rucksacktouren durch Asien durch Familienurlaube an der Nordsee ersetzt. Ausgehen zu zweit durch eine ganze Agenda von Kinderprogramm und Spielverabredungen. Freiheit durch Liebe. Irgendwann blickte mir aus dem Spiegel eine andere Frau entgegen, eine mit Flecken auf dem T-Shirt und Knete in den Haaren. Die Spiegelfrau wusste gute Mittel gegen Windeldermatitis, kaufte nur noch Bio-Milch, bastelte Marienkäferkostüme zu Karneval und Lebkuchenhäuser in der Weihnachtszeit. Sie aß Ravioli, weil die Kinder es mochten, statt SWR3 hörte sie Radio Teddy, und der Vater ihrer Kinder wurde ihr bester Freund.

      Nicht, dass alles schlimm gewesen wäre. Es macht nicht unglücklich, bedingungslos geliebt zu werden. Bestimmt nicht. Und umgekehrt liebe ich meine Kinder über alles und natürlich auch meinen Mann. Es ist nur anders. Denn ich habe mich darüber selbst verloren.

      Als von einem ehemaligen Kollegen das Angebot kam, ein Praktikum in Australien zu machen, war es wie ein Weckruf. Vier Monate ab September. Ich konnte gar nicht anders als annehmen und hängte sogar noch zwei Monate Urlaub vorne an. Ganz sicher ist mein alter Job nie mein Traumberuf gewesen, und auf das Geld sind wir nicht angewiesen. Aber ich brauche die Aufgabe. Ich will wieder für etwas anerkannt werden, etwas das unabhängig von geputzten Fensterscheiben ist oder mit jedem Mittagessen, das nicht den Ansprüchen meiner Kritikerschar entspricht, entzogen werden kann.