Kapitel 2
Liebster Papa! Ein Brief.
Ich hoffe, dort wo du jetzt bist, geht es dir gut? Heute habe ich dir vieles zu berichten. Angenehmes, aber auch Unangenehmes. Aber höre selbst. Das Leben hier hat sich, seit du von uns fort bist, sehr verändert. Weiß nicht, ob man sagen kann, zum Vorteil. Oft vermeinte ich schon, den Weltuntergang zu ahnen. Erinnerst du dich, Hemingway: „Aber der Weltuntergang läuft nicht so ab, wie Bobby es auf einem der großen Gemälde projektiert hatte. Er kommt mit einem von den Inseljungen, der die Straße vom Postamt heraufeilt, ein Radiotelegramm bringt und sagt: Bitte unterschreiben Sie hier auf dem abreißbaren Teil des Umschlags. Es tut uns leid, Mr. Tom!“ Zu mir hat der Postmensch nicht gesagt „Es tut uns leid.“ Er hat gar nichts gesagt, außer: „Ein Einschreiben.“ Er hält mir den Stift hin. „Da unten. Fest aufdrücken! Auf Wiederschaun.“ Vom Finanzamt. Ich denke daran, wegzufahren. Auf meine Insel. Ach, Papa, wer auf meine Insel kommt, macht eine Zeitreise. Die Häuser, die Pflastersteine in den engen Gassen, die kleine Kirche oben am Hügel. Alles ist einige Hundert Jahre alt. In der näheren Umgebung gibt es eine Ölmühle, ein paar Weinkeller und Stallungen, inmitten von Olivenhainen, gesäumt von Orangen- und Zitronenbäumen. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert, den alten Stil beibehalten. Nichts, was das Auge stört. Kaum Asphalt.
Nicht so wie hier! Jeder Feldweg zuasphaltiert. Auch die Einfahrt beim Bürgermeister. Aber dort? Alles grün, dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, nur ein Hauch. Eine Oase der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche. Ach, Papa, ich wollte, du könntest es sehen! Ich weiß, dir wäre es viel zu heiß hier. Hitze konntest du nie ausstehen. Bist mehr der Typ fürs Kühle. Mama wäre gerne hier, denke ich, schon wegen ihrer Gicht. Auf der Insel gibt es kein Gemeindeamt. Überhaupt kein Amt. Gott sei Dank! Die Administration ist weit, weit weg, irgendwo auf dem Festland.
Und Exekutive ist nicht nötig hier. Alles geht seinen jahrhundertealten Weg. Einträchtig, besonnen. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé. Man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne sofort einen Schwips zu kriegen. Und das Brot! Dieses Brot, olivig, mit ein wenig Oregano, himmlisches Manna ganz einfach! Auf meiner Insel ist eben alles anders. Die Jungen, wenn sie Spaß wollen, nehmen ein Boot und fahren ans Festland. Und wenn es daheim Feste zu feiern gibt, bleiben sie alle da. Die Alten, die haben das Sagen. Vor denen hat man Respekt. Nicht wie bei uns. Und die Jungen lassen sich was sagen von ihnen. Hören auf ihre Ratschläge. Nicht so, wie … aber, höre selbst: Gar nicht so weit von uns beginnen die Jugendlichen zu rebellieren. Sie verwüsten die Innenstädte, zünden Autos an, werfen die Auslagenscheiben ein. Fragt man sich, warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie die Kontrolle über die Straße haben. Ein wenig Machtfantasien ausleben. Macht, die sie nicht besitzen. Darum plündern sie, um das alles endlich auch zu besitzen, was die anderen schon lange haben. Weißt du, ich denke, ihnen fehlt das soziale Bewusstsein.
Wir Wirtschaftswunderkinder, wir sind da anders. Wir hatten erst nichts, dann ein wenig und schließlich haben wir alles gehabt. Radio, Fernsehen, Video. Richtig satt sind wir. Denen aber fehlt der Bezug zur Gesellschaft, würdest du sagen. Die Hoffnungslosigkeit hat sie erfasst. Aber diese Modefummel, oder was weiß ich, das alles ist kein Ersatz für das, was ihnen wirklich fehlt. Sie reden verschlüsselt und du kommst nicht ran an sie. Ihre virtuelle Welt ist aus dem Nichts entstanden, nicht gewachsen, wie unsere. Sie praktizieren eine Kultur des Diebstahls und der Fantasie, völlig ohne Regeln. Und weil ihnen niemand zuhört, müssen sie jeden Furz, den sie lassen, auch noch www-mäßig posten. Aber eine ungeregelte Welt funktioniert nicht. Du weißt das, Papa. Ein Mensch braucht Regeln, hast du immer gesagt, weißt du noch? Hier, auf meiner Insel, wird nicht viel geschrieben. Alles, was man so hört, lebt aus Erzählungen. Was man wissen muss, wird von Mund zu Mund weitergegeben. Meinetwegen wo’s die besten Fischgründe gibt, wo noch nicht alles leergefischt ist. Oder wo man eine tolle Disco findet. Auch der Mythos lebt aus den Erzählungen der Alten.
Gottlob gibt es auf der Insel keine Politiker. Jeder macht seinen Job. Für Hobbys hat man hier keine Zeit. Auch zum Streiten nicht. Nachdem hier niemand reich ist, gibt es auch keinen Neid, vor allem aber keine sozialen Spannungen und Gegensätze. Kein Stress, wer den größeren SUV hat und so. Weißt du, Papa, als ich damals zum ersten Mal hier an Land gegangen bin, wollte niemand eine Dienstbeschreibung von mir haben. Keiner wollte meine Zeugnisse sehen. Ist vielleicht auch besser so. Auf ein Glas Wein haben sie mich eingeladen und wir haben gelacht, als ich erzählt habe, wo ich herkomme, wenn auch erst hinterher, denn: „Kommunista! Kommunista!“, hat der Priester gebrüllt, als ich Österreich sagte und ist von seinem Stuhl aufgesprungen und der wilde lange, graue Bart hob und senkte sich rhythmisch mit dem schweren Atem seines Besitzers. Aber der Lehrer hat ihn beruhigt. „No no, Avustria, Kreisky, Kreisky!“, hat er gesagt und ihn mit einer Hand an der Schulter genommen und wieder in den Sessel gedrückt. Der Lehrer und der Priester, die beiden sitzen immer zusammen vor der Kneipe, sind mittlerweile meine Freunde. Einer der Fischer, Jannis, mit weißen Bartstoppeln im Gesicht und einigen Zahnlücken, hat mich früher immer zum Korallenriff mitgenommen, wo sie meistens fischen. Er ist im vorigen Sommer verstorben.
Dort liegt das Wrack eines alten Frachters. Es hatte Westwind gegeben, damals, sagte er. Die Wellen sollen fünf Meter hoch gewesen sein. Dann sind sie auf dem Riff hier hängengeblieben und schließlich gekentert. Einige aus der Mannschaft hatten sich retten können. Der Steuermann ist nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt, sondern hiergeblieben. Vor zwei Jahren ist auch er verstorben. Wir haben ihn alle sehr gemocht, fügte er hinzu. Portugiese. Er liegt jetzt auf dem winzigen Friedhof hinter der Kapelle, unweit von Jannis´ Grab. Wenn ich mich so umsehe, denke ich, dass ich auch einmal dort liegen möchte. Es ist ein so friedlicher Ort. Keine aufgeblasenen Grabsteine, mit für sich vereinnahmten Riesenengeln, um die Wichtigkeit der darunter Liegenden pompös zu untermauern, wer sie nicht alle waren, und was sie zu Lebzeiten nicht alles besessen haben. Dort, Papa, spätestens dort sind wir alle gleich. Im Norden der Insel liegen noch zwei kleinere Dörfer, mit ebenso malerisch weiß leuchtenden Häusern und einem idyllischen Fischerhafen. Dahinter das karge Felsplateau mit seiner schroffen Steilküste gegen Westen hin. Auf der anderen Seite aber habe ich eine versteckte, traumhaft weißsandige Bucht vorgefunden, mit türkisfarbenem, beinahe cremigem Wasser. Anfangs seicht, so drei vier Meter weit hinein, dann leicht abfallend. Und erst weiter draußen so um die zwanzig Meter tief. Weißt du, Papa, du hast mir nie das Schwimmen beigebracht. Ich musste es erst viel später mühsam lernen. Das hat dich alles nicht interessiert, ich weiß. Du warst immer nur mit dir beschäftigt, mit deinen Bildern. Wolltest auch hinaus, auf deine Insel. Aber du hast uns dabei vergessen. Deine Frau, deine Kinder, beinahe. Trotzdem. Ich hätte deine Zuneigung so dringend gebraucht. Das Zehngang-Fahrrad! Alle hatten eins, bloß ich nicht. Von meinen Söhnen hat jeder eines von mir bekommen. Ich wollte nicht denselben Fehler machen.
Gestern war ich unten am Hafen. Mit Freunden. Es ist spät geworden. „Wirf diesen ganzen Ballast über Bord, den du da mit dir immer herumschleppst“, hat mir der Hafengjörgi, der Kneipenwirt, geraten. „Deine Notizbücher, die Dose mit den Schlaftabletten und das ganze