Crazy Zeiten - 1975 etc.. Stefan Koenig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stefan Koenig
Издательство: Bookwire
Серия: Zeitreise-Roman
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750214989
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gefallen, weil mein prüfender Professor entdeckt hatte, dass ich ihn um den Finger wickeln wollte. Und Svea war eine bloße Schauspielerin, um mich im Namen Gottes zu prüfen.

      Ich stritt mich mit Gott, dem ich vorwarf, dass er all das Übel in der Welt zuließ. Gott sprach von der Eigenverantwortlichkeit der Menschen und von der Vertreibung aus dem Paradies. Es war ein rein theologisch-unlogisches Geschwätz. Wie nicht anders zu erwarten, begann er bei Adam und Eva. Ich hingegen sprach vom sozialistischen Paradies und von Gottes eigener Verantwortlichkeit, wenn er denn allmächtig sei und fragte ihn, warum er die Erfindung der schändlichen Sklaverei zugelassen habe? Hatten die Sklaven daran selbst Schuld oder wie? Schon freute ich mich, weil Gottes Antwort ausblieb und er anscheinend ins Grübeln kam.

      Ich war kampfesmutig und warf ihm allerhand vor, was in der Menschheitsgeschichte schiefgegangen war. Ich begann mit der unmenschlichen Sklaverei bei den alten Ägyptern, warf ihm die Sklavenhalterordnung der Römer und Griechen vor und natürlich die moderne Lohnsklaverei, Ausbeutung, Kinderarbeit, Armut, Umweltzerstörung.

      Ich holte kaum Luft, und schon warf ich Gott den unmenschlichen Faschismus mit seinen verheerenden Folgen für Deutschland und die Welt an den Kopf. Natürlich warf ich ihm auch den immer noch existierenden Rassismus, Chauvinismus und Faschismus in westlich orientierten Ländern wie Spanien, Portugal, Griechenland und jetzt auch noch in Chile vor. Die Krönung meiner Vorwürfe bestand in der Aufzählung aller mir bekannten großen Kriege, die Gottes geliebte gottesfürchtige Menschlein je geführt hatten. War er vielleicht ein unbarmherziger Kriegsgott, hatte er uns nicht als sein Ebenbild erschaffen?

      Sogar die Hunnen warf ich ihm an den Kopf. Dann kam ich zu all den unnötigen Naturkatastrophen, angefangen bei Blitz und Donner, Regenfluten, Überschwemmungen, Erdrutschen, Erdbeben, Kometeneinschlägen, Dürren, Missernten, Eiszeiten und allem, was dem Blauen Planeten schaden konnte. Und das sei Gottes Lieblingsball im Spielfeld des Universums?

      Ich hatte gerade alles aufgezählt, als ich glaubte zu erwachen. Ich erinnere mich dunkel, dass ich mir jedenfalls vornahm, schneller zu erwachen, als Gott mich für meine wenig ehrfürchtige Rede zur Hölle schicken konnte.

      Ich musste meine Augen erst an die Umgebung gewöhnen. Ich befand mich nicht in dem Hotel „Marseille“, jenem kleinen heruntergekommenen Etablissement in Marrakesch, wo wir noch vor weniger als vierundzwanzig Stunden untergekommen waren. Ich befand mich auch nicht in der Berliner Lützen- oder Clausewitzstraße. Ich befand mich ganz eindeutig in Lufthansa-Flug 3342 eines großen Vogels namens Boeing 757.

      Ich nahm mein Taschentuch und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Puhhh, noch mal Glück gehabt. Gott hatte mich nicht aus dem Flieger geworfen.

      Ich wollte nun aufspringen, denn ich witterte Gefahr. Doch der Gurt hielt mich fest.

      Fasten Seat Belt. Ich löste benommen die Schnalle.

      Jetzt hielt mich noch kurz der Krallengriff des Albtraums gefangen, dann ließ auch er mich los und gab mir scheinbar die volle Orientierung zurück.

      Ich befand mich auf dem Luftweg nach Berlin, und mit mir 299 andere Passagiere. Darunter meine Freundin Doro und das mit uns eng befreundete Pärchen Quiny und Wolle, der nette Dreckskerl, der es beim Start irgendwie geschafft hatte, mich am zügigen Einschlafen zu hindern.

      Als Erstes warf ich einen Blick auf die Uhr. 1:12 Uhr.

      Dann sah ich auf den Sitz rechts neben mir, wo Doro saß. Doch sie war nicht da. Stattdessen lag dort ein Taschentuch.

      Dann sah ich weiter in der Reihe – doch die Sitzreihe war leer, völlig leer.

      Dann schaute ich vor mich und schaute den Gang entlang, und voller Schrecken stellte ich fest, dass ich niemanden sah. Nirgends ein Kopf über der Lehne eines Sitzes. Nirgends ein Bein quer im Gang. Weit und breit keine Stewardess in der Economy Class.

      Ich betätigte den Ruf-Knopf für das Bordpersonal, aber nichts rührte sich – auch nicht, als ich mehrmals und lange klingelte.

      Über den Service werde ich mich beschweren, schrie es in mir. Ich werde Schadensersatz fordern. Doro und ich hatten eine Rechtsschutzversicherung, wie jeder kluge Deutsche. Rechtsstreitigkeiten kostenfrei!

      Ich strich mir über die verschwitzten, fettigen langen Haare, über die sich das vornehme Damenkränzchen meiner Mutter jetzt zu Recht belustigt hätte. Aha, schoss es mir durch den Kopf. Man schaut Video in der First Class. Die Stewardess legt bestimmt gerade ein neues Band ein. Vielleicht sehen sie „Angst essen Seele auf“, meinen Lieblingsfilm von Rainer Werner Fassbinder.

      Ich stand benommen auf. Vielleicht sehen sie auch „Jeder für sich und Gott gegen alle“, ein Film von Werner Herzog über das Leben Kaspar Hausers, der seine ersten achtzehn Lebensjahre in einem engen Kellerverlies verbringen musste, isoliert von jeglichem menschlichen Kontakt, außer zu einem Fremden, der ihm sein Essen brachte. Ich ging nach vorne und schob den Vorhang, der die Abteile trennte, zur Seite. Den Kaspar-Hauser-Film wollte ich schon lange mal sehen. Die Rezensionen waren vielversprechend.

      Was ich sah, rebellierte gegen meinen Verstand:

      Kein Video! Kein Mensch! Keine Stewardess! Die erste Klasse war völlig leer, ebenso wie die Economy Class.

      War das Gottes Rache – die Vernichtung der Ersten Klasse? Hatte er gar auf mich gehört, hatte er den Klassenkampf zugunsten der Benachteiligten entschieden? Oder hatte er eigentlich die Zweite Klasse, in der ich saß, aufs Korn genommen und der Einfachheit halber das menschliche Leben von allen Klassen erlöst? Hatte er sich bei der Klassenwahl getäuscht, war es ein Versehen? Er hatte sich schon so oft getäuscht. Jahrtausende lange Täuschungen.

      In diesem Moment ertönte der überlaute Ruf.

      Es war Doro, sie rief nach der Stewardess.

      Zwischenlandung bei den Kelly Kids

      Am nächsten Morgen wachte ich in einem Hotelbett neben Doro auf.

      „Wo sind wir?“, fragte ich.

      „In Madrid; der Flieger hatte technische Schwierigkeiten. Und du hattest hohes Fieber. Ich muss jetzt deine Temperatur messen.“

      Ich war wohl heillos überfordert gewesen, körperlich und psychisch, dazu ein Infekt – und nun lag ich hier an meinem Geburtstag. Die erste Hotelübernachtung ging auf Kosten der Lufthansa. Auf Doros hartnäckiges Betreiben hin durften wir beide allerdings zwei Übernachtungen bleiben, obwohl das Hotel am Madrider Flughafen ab dem Folgetag angeblich ausgebucht war. Ich war noch viel zu schwach, um die Weiterreise antreten zu können. Meinen Geburtstag im Krankenbett zu feiern, war mal was Neues. Doro besorgte mir ununterbrochen Tee und versorgte mich mit Obst, Tapas und irgendwelchen obskuren Genesungspillen.

      Ich schlief den ganzen Tag bis zum nächsten Vormittag und war nach der üblichen spanischen Siesta-Zeit um 17:00 Uhr wieder soweit fit, dass wir gemeinsam einen kleinen Spaziergang in Madrids Altstadt unternehmen konnten. Das Taxi setzte uns in der Nähe der Kunstgalerie »Circulo de Bellas Artes« ab. Von dort aus schlenderten wir Richtung »Museo Nacional Thyssen-Bornemisza« und kamen schließlich am »Plaza Mayor« an.

      „Was hat denn der Thyssen-Konzern hier in einem Museum verloren?“, fragte Doro. Ich wusste es nicht. Warum das Museum den Namen Thyssen führte, würde ich vielleicht später herausfinden.

      Eine große Menschentraube stand am Plaza um eine achtköpfige Gruppe singender Kinder und Jugendlicher herum, die mit den unterschiedlichsten Instrumenten eine tolle Gesangsschau abzogen. Mittendrin befand sich ein älteres Paar, das sich beim Singen gegenseitig anhimmelte und voller Energie und Leidenschaft die Kinderschar in ihrem Gesang mitriss. Fast schien es mir, als sei dies eine große Familie. Die hüftlangen Haare fast aller Gruppenmitglieder und ihr ungewöhnlicher Kleidungsstil sprangen ins Auge.

      „Das ist eine am Existenzminimum nagende Großfamilie“, sagte Doro.

      „Es scheinen Geschwister zu sein, und die beiden Älteren sind wahrscheinlich Vater und Mutter“, meinte ich.

      Die