Dryade. Aline S. Sieber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Aline S. Sieber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738029772
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verkauften sein Blut und seinen Körper zu einem bestimmten Preis. Nur die engsten Mitglieder der mythischen Mafia bekamen den lebenspendenden Saft umsonst, während die Arschkriecher es als Belohnung erhielten. Alle anderen mussten horrende Summen dafür bezahlen.

      Die Vampire kamen nicht mehr so oft. Im Gegensatz zu ihrem sonstigen Benehmen rannten sie hektisch durch die Gegend. Nico konnte ihre Schritte draußen auf dem Flur hören. Außerdem hörte er die Schreie.

      Es hatte angefangen, als der Mond draußen seinen Zenit erreicht hatte. Das wusste Nico, weil er es fühlen konnte, wie er es schon immer gefühlt hatte. Vor Erschöpfung fiel sein Kopf auf die Brust. Es war unmöglich, gegen all das gewappnet zu sein. Er hatte langsam das Gefühl, als würde mit jedem Biss ein Stück seiner Seele schwinden. Die Schreie draußen kamen näher. Als die Tür aufflog wurde ihm plötzlich klar, was sie bedeuteten. Die Vampire verließen dieses Lager – und töteten alle Blutsklaven. Eine Hand packte sein Kinn und hob es an.

      „Der hier lebt noch.“

      Der Vampir fletschte die Zähne und biss ihn. Kurz, bevor er die Kontrolle über seinen Körper verlor – wieder einmal – hörte Nico einen anderen rufen:

      „Ihn nicht!“

      Die folgende Erklärung drang nicht mehr zu ihm durch.

      San Francisco, Vereinigte Staaten von Amerika, 2013

      „Nico?“

      Matt nahm das Gesicht seines Bruders in beide Hände. Blut tropfte auf seine Hose. Er versuchte, die Bisswunden nicht zu beachten, die Nicos Körper aufwies. Unter den geschlossenen Lidern des Jüngeren quollen blutige Tränen hervor. Das Halbdunkel verdeckte sie nur ansatzweise, genauso wie die auskühlenden Körper, die um sie herum lagen. Behutsam fuhr der Eisdryade mit den Händen über den reglosen Körper.

      „Sch. Ich bin ja da. Alles wird gut.“

      Plötzlich erstarrte er, als er feststellte, dass die Körpertemperatur seines Bruders sich verändert hatte. Er war zu kalt. Die Wandlung war noch nicht abgeschlossen, also…

      „Nein!“

      Sein Bruder war mehrere Male schwer verletzt und misshandelt wurden, und hatte dennoch überlebt. Vielleicht hatten sie ihn töten wollen, als sie ihn mit diesen Wunden hier zurückließen, vielleicht hatten sie aber auch etwas ganz anderes im Sinn gehabt.

      „Nein! Nico, bitte…bitte sag mir, dass sie das nicht getan haben!“

      Eine Hand drückte sanft die seine. Sein Bruder sah ihn aus scheinbar halb geöffneten Augen an.

      „Nur zur Hälfte.“

      Mehr als ein Flüstern brachte er nicht zustande.

      „Bitte, Matt, lass mich nicht hier… sterben.“

      Der Ältere wich ein Stück weit zurück.

      „Du bist Einer von Ihnen!“

      „Nein! Bitte. Wenn..ich sterbe, werde ich mich wandeln. Bitte nicht. Bitte, Matt!“

      Er bemerkte erst jetzt, dass Nicos linke Augenhöhle leer war. Sein Bruder atmete nur noch stoßweise. Er kniete sich wieder neben ihn und hielt ihm schließlich entschlossen den Mund zu. Nicos noch vorhandenes Auge weitete sich. Er zuckte ängstlich zurück, und ein Schwall Blut ergoss sich auf den Fußboden und über die Kleidung seines Bruders.

      „Ich lasse dich nicht hier. Du bist immer noch mein Bruder.“

      Aber es kam nicht von Herzen. Matts Stimme nahm einen distanzierten Tonfall an, den Nico kannte. Bisher hatte er ihn nur Fremden gegenüber angewandt.

      Nicolai wurde ohnmächtig, als sein Bruder ihn hochhob. Sein Kopf fiel nach hinten. Der Dryade konnte die Arme und Beine seines Bruders nicht gleichzeitig halten, sodass sie hinab fielen. Nicos Körper schaukelte, so leicht war er. Matts Blick streifte eine zerbrochene Fensterwand, an der er vorbeikam. Eine Figur, die eine andere trug, blickte ihm entgegen. Die kleinere Person wirkte wie eine zerbrochene Puppe.

      Sibirien, 2014

      Es hatte viele Wochen lang gedauert, bis Nicos Wunden soweit geheilt waren, dass die Brüder abreisen konnten. Obwohl Matt es nie ansprach, wurde Nico bald klar, dass sein Bruder ihn nur als zusätzliche Last betrachtete, nicht mehr als einen geliebten Angehörigen. Das tat weh. Sein Körper, der jetzt einem Halbwesen gehörte, mochte geheilt sein. Doch seine seelischen Schäden wurden in diesen Wochen nur noch größer. Als Matt seinem Bruder schließlich eine Augenklappe schenkte, die seine Gebrechen mehr hervorhob als verbarg, zerbrach die Bindung zwischen den beiden endgültig.

      Das sibirische Dorf, in das sie schließlich zogen, stellte sich als Silbermine heraus. Die Bewohner nahmen Nicos Anwesenheit zur Kenntnis, mieden ihn aber dennoch wie die Pest. Mit fast zwanzig Jahren war Nico so einsam wie nie zuvor. Dabei war sein Zustand nicht einmal seine Schuld. Egal, was Matt sagte, er würde es nicht hinnehmen, selbst daran schuld zu sein.

      „Was bin ich, Matt?“

       Er hatte seinem Bruder die Frage gestellt, sobald er damals wieder zu sich gekommen war. Diese Wesen hatten sein Blut getrunken und ihn geschlagen. Nico wollte wissen, warum. Er befürchtete, die Antwort schon zu kennen, denn das Wort Eisdryade hallte in seinem Kopf wider, nachdem Linan es ihm gesagt hatte. Während der zahllosen Nächte, die er in der Vampirhölle schlaflos verbracht hatte, hatte es den Schmerz gelindert, zumindest ein wenig. Jetzt jedoch pochte und pulsierte es in seinem Kopf als wolle es heraus.

      „Warum bin ich so?“

       Matt wusste, was sein Bruder meinte. Die Antwort kam dennoch nur unwillig.

      „Du bist zur Hälfte Eisdryade. Das hast du von unserer Familie vererbt bekommen.“

      „Und was ist das?“

       Matt wurde ungeduldig.

      „Dein Element ist das Eis, Bruder. Du bist so eng mit ihm verwachsen, dass zu starke direkte Sonneneinstrahlung dich binnen Minuten tötet. Die Wandlung zum Dryaden beginnt bei jedem Heranwachsenden unserer Art mit Beginn des siebzehnten Lebensjahres. Jeder hat andere Fähigkeiten, die sich im Laufe der Jahre vollends entwickeln; ich zum Beispiel kann den Schneesturm rufen. Unsere Kräfte sind wie das Wasser vom Mond abhängig. Bei einer vollkommenen Mondfinsternis bist du also machtlos. Reicht das?“

      „Aber ich bin nicht normal, oder? Nicht mehr.“

       Nicolai wurde traurig. „Ich bin anders.“

       Sein Bruder bestätigte es ihm. „Du bist anders. Ich kann nicht sagen, wie sehr. Trinkst du Blut?“

      „Nein!“ Die Unterstellung war infam, vor allem nach dem, was ihm die Vampire angetan hatten.

      „Dann ist es ja gut. Aber eins sage ich dir, Nico: Mach mich nicht für deinen Zustand verantwortlich! Du hättest damals nicht kommen müssen.“

      „Natürlich musste ich! Sie haben Dad ins Krankenhaus gebracht! Du musstest es doch wissen!“

       Der Halbdryade war entsetzt; sein Bruder stellte alles in Frage, woran er die vergangenen Jahre lang geglaubt hatte. Matt erwiderte kalt seinen Blick. „Es ist nicht meine Schuld. Lerne endlich, damit zu leben.“

       Er drehte sich wieder weg. Dabei wusste er, dass es genau das war, was er gegenüber seinem Bruder empfand: Schuld. Er konnte Nicolai nicht einmal ansehen, ohne zu wissen, dass er dafür verantwortlich war. Aber deswegen würde er es noch lange nicht zugeben!

      „Was ist mit ihnen passiert? Unserer Familie, meine ich. Werden wir zu ihnen gehen?“ Er sehnte sich so schmerzlich danach, sie wiederzusehen, hoffte so sehr, dass sie ihn nicht auch wie einen Ausgestoßenen behandeln würden - so, wie Matt es tat.

      „Sie