Die Schandmauer. Heide Fritsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heide Fritsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737522908
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war. War er gefallen? Wurde er von den Russen gefangen genommen? Wurde er nach Sibirien geschickt? Der Suchdienst vom Roten Kreuz konnte ihnen auch nicht helfen. Ich kann mich an meinen Vater nicht erinnern.“

       „Was ist mit Herrn Schwitters? Sie nennen ihn nicht Vater oder Papa oder so ähnlich?“

      „Dieses Ekel?“

      Lilly musste wieder zum Tresen. Jetzt kamen mehrere Kunden. Die Musik spielte mit Verstärker. Hegmann hatte Kopfschmerzen. Er holte sich ein Bier. Es kamen immer mehr Menschen. Lilly hatte viel zu tun. Kriminalkommissar Hegmann setzte sich an den Tresen. Um ihn herum Stimmengewirr: „Diese angebliche Tätigkeit von NS-Richtern...“

       „Kennst du die Hydra?“

       „Kann mich nicht erinnern.“

       „In der Ostzone gibt es einen Ausschuss für die deutsche Einheit. Der Ausschuss ist wie die Hydra. Schlägst du ihr einen Kopf ab, wachsen zwei neue Köpfe nach.“

       „Max, nimm die Finger da weg.“

       „Ich habe die Sache meinem Anwalt übergeben.“

       „Kennen Sie die Leute auch?“

       „Die mit der Hydra?“

       „Was willst du damit?“

       „Das geht uns alle an, das beschmutzt uns alle. Du kannst dich nicht dagegen wehren. Die hauen Löcher in die Luft und du greifst nach Chimären: Gestern Hitlers Blutrichter, heute Bonner Justizelite. Fragst du, wer? Dann kommen Zahlen, die sich selbständig machen, die galoppieren: sechshundert Nazijuristen, achthundert Nazi-Blutrichter, tausend Blutrichter halten Freiheit und Demokratie im Würgegriff. Tausend Verbrecher in Richterroben. Eintausend und einhundert sechsundvierzig Sonder- und Kriegsrichter. Das wiederholt sich. Namen werden genannt. Zweihundert und dreizehn Richter sind in besetzten Gebieten tätig gewesen. Zweihundert und dreißig haben nationalsozialistischen Organisationen angehört. Alle Vorwürfe sind nebulös, man ahnt alles und weiß gar nichts. Das appelliert an die Phantasie. Hier ist alles möglich. Sehen wir nicht, dass alle besudelt werden? Alle Vorwürfe wurden dienstamtlich geprüft und dann wurden alle Verfahren eingestellt. Namentlich Genannte wurden rehabilitiert. Die Hydra aber spukt weiter in allen Köpfen...“

       „Irgendwas muss doch dran sein?“

       „Max, lass das, hab ich gesagt.“

      „Fräulein, noch zwei Pils. Nehmen Sie auch noch’n Pils? ... Du lieber Himmel, wie lange müssen wir noch warten?“

       „Na, kommen Sie endlich!“

       „Natürlich kostet das ein Heidengeld. Advokaten kosten immer, das können Sie sich denken.“

       „Sag ich zu meiner Frau: Mädchen, leg dich erst mal ins Bett und schlaf drüber.“

       „Wo bloß das Pils bleibt?“

       „Ich frage mich nur: Ist dies Boshaftigkeit, Niederträchtigkeit oder moralische Verdorbenheit...“

      Hegmann hatte einen schweren Kopf, er brauchte frische Luft. Er ging auf die Straße.

       Die Schlägerei in der Piano-Bar

      Am Samstagabend war die Bar überfüllt. Am Tresen saß Sigismund Sankowice. Er besaß eine Bar an der Potsdamer Straße. Offensichtlich konnte er es sich erlauben, stundenlang bei der Konkurrenz herumzuhängen und sich volllaufen zu lassen. Er starrte Lilly an:

       ”Gehst du mit mir aus?“

       „Sie sehen, was hier los ist.“

       „Morgen?“

       „Morgen ist wieder das Gleiche.“

       „Übermorgen?“

       „Übermorgen gehe ich zur Schule und dann habe ich Nachtwache im Krankenhaus.“

      Herr Sankovice schob ihr schweigend sein Glas zu. Jeden Samstag saß er in der Bar, fragte Lilly, ob sie mit ihm ausgehen wollte, starrte sie schweigend an, trank sich voll und verschwand schweigend, nur dieses Mal nicht. Er trank noch ein paar Bier, dann kam wieder die Frage: „Gehst du mit mir aus?“

       „Nein.“

      Da flog das erste Glas. Lilly verschwand blitzschnell hinterm Tresen. Die Gäste freuten sich. Endlich wurde hier Stimmung gemacht. Da flog das zweite Glas. Gelächter, aufmunternde Zurufe: „Immer drauf!“

       „Dufte.“

      „Haut’se!“

      Der Student am Piano bekam ein Glas an den Kopf. Er verschwand blitzschnell durch die Hintertür. Jemand schrie. „Na warte, hat mich doch …“

      Gläser segelten durch die Luft. Ein Mann bekam ein volles Bierglas ins Gesicht. Da schlug er zurück. Er war halb blind vom Alkohol, der in seinen Augen brannte. Danach ging es Schlag auf Schlag. Jeder prügelte sich mit jedem. Die Mädchen hinterm Tresen liefen durch die Hintertür raus. Frauen liefen schreiend auf die Straße.

      Die Männer holten hinterm Tresen die vollen Flaschen aus den Glasschränken: „Hipp, hipp, hierher!“

       „Rolf, mir auch eine!“

      Die jungen Mädchen, die als Aushilfen in der Bar arbeiteten, riefen den Chef an: „Was sollen wir machen?“

       „Ihr verschwindet! Ich komme selber. Ich verständige die Polizei und übernehme selber alle Aussagen. Elke bleibt da und wartet auf mich.“

      Elke war die festangestellte Superblondine. Die Mädchen verschwanden. Aus der Ferne hörten sie die Sirenen von Einsatzwagen. Die Polizei war in der Potsdamer Straße schnell zur Stelle. Vor der Bar standen heulende und schreiende Frauen. Als die Polizei in die Bar reinstürmte, bekam ein Polizist eine Wodka-Flasche auf den Kopf. Die Polizei telefonierte nach Verstärkung. Mehr und mehr Polizisten kamen in die Bar. Einige der Kampfhähne versuchten, aus der Hintertür heimlich wegzuschleichen. Doch auch hier hatten sich schon Polizisten platziert.

      Drei Uhr nachts war es wieder ruhig in der Bar. Der Fußboden war mit Alkohol, zerbrochenen Gläsern und Blut verschmiert. Alle Glasschränke der Bar waren zerbrochen. Stühle und Tische lagen demoliert durcheinander.

      Bis die Polizei die Bar von den sich prügelnden und randalierenden Betrunkenen ausgeräumt hatte, war der Chef Herr Sievert selber zur Stelle. Er sprach mit der Polizei. Er war die ganze Nacht hier gewesen, sagte er. Elke, die festangestellte Bardame konnte das bestätigen. Gegen die randalierenden Gäste waren sie einfach machtlos. Gab es außerdem noch Angestellte? Sicher, Aushilfskräfte. Da waren zum Beispiel die Studenten von der Musikakademie. Die spielten immer am Wochenende in der Piano-Bar. Mit ihnen kamen auch einige Studentinnen. Feste Anstellungsverhältnisse oder Personalakten hatte er darüber aber nicht. Alle, die in dieser Nacht in der Bar waren, sollten am nächsten Tag zum Polizeipräsidium vom Bezirk Tiergarten kommen. Alle Aussagen mussten festgehalten werden. Die Bar war in den nächsten vier Wochen geschlossen.

      Am nächsten Tag versammelte Herr Sievert alle Angestellten, die in der Nacht in der Bar gewesen waren, in seinen Privaträumen. Er wollte genau wissen, was passiert war. Danach musste eine offizielle Version abgefasst werden, was die Angestellten der Polizei erzählen sollten. Elke, die festangestellte Bardame, sprach für die Mädchen: „Ja, da kam wieder dieser Sankovice von der Bar an der Ecke Potsdamer Straße und Bülow Straße hierher.“

      „Wat heißt ‚wieder‘?“

      „Der war öfters hier und starrte immer Lilly an.“

      „Was