Nun hatte aber der Packraum zwei unterschiedlich zu behandelnde Fensterchen; eines gegen Süden, das zur Not noch geöffnete werden durfte, außer an ganz heißen Tagen, wenn die Hausherrin im Schatten der Trauerweiden Kühle und Erholung suchte. Stand also schon am Morgen der Liegestuhl zwischen Rhododendren und Trauerweiden, dann musste das Fenster unter allen umständen geschlossen bleiben, damit weder der Auftritt noch der Abgang der Kühlung suchenden Dame beobachtet werden konnte. Das Fenster gegen Westen zu öffnen jedoch war selbst bei tropischer Hitze unter keinen, aber auch wirklich ausnahmslos keinen Umständen gestattet.
An diesem hochsommerlichen Tag, da die Luft vor den Fenstern schon am Morgen zitterte, stand der Liegestuhl bereits auf dem Rasen, als wir zur Arbeit kamen. Natürlich musste das Fenster einen Spalt breit geöffnet werden, damit man dies überhaupt sehen konnte. Obwohl der Liegestuhl nicht besetzt war, musste ihm wie weiland dem Gesslerhut zu Altdorf Reverenz erwiesen werden, sozusagen in entgegengesetzter Weise, dadurch nämlich, dass er nicht beachtet wurde. Wurde er nicht beachtet, so war dies der Beweis dafür, dass er rechtzeitig eben doch gebührend beachtet worden war.
Unser Musensohn muss sich an diesem Morgen in über-mutigem Vertrauen des Goethewortes erinnert haben: „Alles geben die Götter, die unendlichen, ihren Lieblingen ganz.“ Aber Lieblinge der Götter brauchen Luft zum Atmen. Selbst himmlische Wesen, lassen sich nicht in einen engen, dunklen Raum einsperren. Fotografen haben zudem ein ganz besonderes Auge für malerische Sujets. Als der junge Held, die Gebote souverän verachtend, das kleine Flügelchen im Fenster – und an welchem Fenster gar? An jenem gen Westen nämlich, das unter allen Umständen tabu war – öffnete, bot sich seinem Blick eine zauberhafte Welt dar. Im Rahmen des Fensters erschien ein Bild von unbeschreiblicher Schönheit. Die Zweige der Rosensträucher, die an der Wand unseres Häuschens emporrankten, brachen die harten Konturen des Fensterkreuzes, und zwei, drei zartrosafarbene, voll aufgebrochene Rosen bildeten den lieblichen Vordergrund. Rechts zogen sich die Perspektiven einer Laube hin, die das Gärtnerhäuschen und die Villa verband. Vor der Laube breitete sich der grüne, ebene Teppich des gepflegten Rasens aus. Die Bäume standen hier nicht so dicht. Von den Stämmen rückte keiner bis ins Blickfeld hinein. Nur die Schatten und die oben ins Bild hereinhängenden Äste deuteten auf altehrwürdige Koniferen hin. Den Hintergrund bildete die bis dahin von keinem fremden Auge entweihte jungfräuliche Fassade der alten Villa. Eine Tür zum Garten stand weit offen. Tür und Fenster aber waren ausgefüllt von schwarzen, für menschliche Blicke undurchdringlichen Schatten. Vor der Fassade, im Winkel zwischen Villa und Laube, waren ein großer Gartentisch und Stühle aufgeschlagen. Ein dienstbarer Geist hatte den Tisch mit Tellern und Gläsern bedeckt. Von einem Ast über dem Sitzplatz hing ein Seil herunter, das irgendwo im Geäst befestigt sein musste. Als ob alles für eine Henkersmahlzeit bereit wäre. Dazu aber passte der friedliche Rahmen nicht.
Nun kann aber auch das Auge eines Fotografen nicht unendlich lange im Sucher seiner wenn auch nur imaginären Spiegelreflexkamera verweilen. Der Ausschnitt war gut, die Idylle vollkommen. Das Bild hatte sich, über die Netzhaut, tief in die Seele eingeprägt. Die Arbeit am Packtisch konnte weitergehen. Plötzlich schreckte ein silberhelles Glöckchen, wie es auf den Alpweiden die Ziegen um den Hals tragen, unser fröhlich vor sich hin pfeifendes Sonntagskind von der Arbeit auf. Mit einem Satz sprang Fringeli ans Fenster. Die Szenerie hatte sich geändert. Zwei Stühle waren besetzt. Rechts vom Tisch saß Herr Direktor Ledergerber; links unter dem Seil, das noch ein wenig hin und her baumelte, saß steif und aufrecht die hagere Gestalt der Frau Gemahlin. Aus der Tür trat soeben ein dienstbarer Geist in den Garten heraus und trug auf einem großen Tablett zwei auf diese Distanz nicht zu definierende Früchte. Nach einem flüchtigen Blick kehrte Adonis an den Bindfadenabroller zurück, um das angefangene Paket zu schnüren. Aber wiederum rief ihn ein nervöses Gebimmel ans Guckloch zurück. Die Früchte waren verschwunden. Die unscheinbar dienende Fee brachte auf dem Tablett eine Karaffe und eine Schüssel. Beim dritten Bimmeln wurde wahrscheinlich Käse herausgetragen, und nach dem vierten, energischen Läuten wurde abserviert. Und dann war der ganze Spuk vorüber.
Auch für uns war jetzt Mittagszeit. Hochsommerliche, beinahe sonntägliche Mittagsruhe hatte sich über dem vereinsamten Gartenplatz ausgebreitet und war wie eine Katze lautlos in die hintersten schattigen Ecken gekrochen. Das Gärtnerhäuschen stand verlassen im Mittag. Erst nach zwei Uhr, als Frau Knopf die Tür wieder aufschloss und eintrat, gingt ein angenehmer Luftzug durch den Korridor und den Packraum und schmetterte den Fensterflügel mit einem lauten Knall zu. Die sich unbeobachtet wähnende Dame auf dem Liegestuhl im Schatten der Weiden fuhr aus ihren Träumen hoch, blickte zum Gärtnerhäuschen und trat prüfend näher. Als sie nichts Verdächtiges entdecken konnte, trat sie auf die Zehenspitzen und versuchte das Fenster auf der Südseite aufzustoßen. Es blieb zu. Also musste der laute Schlag von der Westseite gekommen sein. Sie ging um die Ecke und versuchte es beim anderen Fenster. Nun aber war gerade unter diesem Fenster ein ummauertes Loch, durch das ein wenig Licht in den Keller eindringen konnte. Die Dame musste sich also über das Loch hinüberneigen. Der ganze Fensterflügel, auf den ihre rechte Hand zustrebte, bestand aus sechs Teilen. Als ihre Hand auf der Scheibe Mitte rechts auftrat, gab diese nasch, und obwohl die kluge Frau Direktor in ihrer schrecklichen Ahnung darauf vorbereitet war, verlor sie das Gleichgewicht, so dass sie mit der linken Hand rasch eine Abstützung an der Wand suchen musste. Die Wand, auf die sie stieß, war aber nicht die Wand, sondern die Fensterscheibe unten links, die zum Glück nicht sogleich zersprang, sondern sich ganz aus ihrer Fassung löste und erst auf dem Packtisch klirrend in Stücke ging. Nochmals aus dem schon wieder beinahe zurückgewonnenen Gleichgewicht geworfen, blieb der verzweifelt nach Halt suchenden Dame nichts anderes übrig, als ihr Knie hochzuziehen und es gegen die raue Wand zu stemmen. In dieser beschämenden Stellung musste die Bedauernswerte einige bange Augenblicke verweilen, bis sie die rechte Hand aus dem Quadrat Mitte rechts, die linke Hand vom Quadrat unten links zurückgezogen hatte und sich mit einigem Gegendruck wieder in die Senkrechte zurückstoßen konnte. Der Verputz aber hatte kleine rote Pünktchen in ihre Handflächen und vor allem auf ihre zarte Kniescheibe gedrückt, die zu betrachten ich drei Minuten später Gelegenheit bekam; denn wer glaubt, die Gedemütigte hätte zugleich mit ihrer aufgerichteten Stellung auch Haltung und Gleichgewicht zurückgekommen, der täuscht sich. Den kaum mehr spürbaren Schmerz, nicht aber den Zorn verbeißend, kurvte sie um das Häuschen herum, schloss das Gartentor auf, blieb beinahe an der Deichsel unseres Leiterwagens hängen und stürzte sich, ohne erst zu läuten, in unseren Packraum. Dort standen bereits unser Fotograf, Frau Knopf und ich, die wir dem Geklirr der Fensterscheibe nachgegangen waren. Der strahlende Apoll warf all seinen Charme in die Waagschale, um den glühenden Zorn zu besänftigen, der da personifiziert in der Mitte unseres Packraums stand und behauptete, es sei im Mietvertrag festgelegt, dass dieses Fenster zu allen Jahreszeiten geschlossen zu bleiben habe. Nur die überzeugende Beteuerung, der verantwortungslose Packer sei erst seit ein paar Stunden in unserm Dienst und unsere Aufklärung habe versehentlich noch nicht eingesetzt, rettete uns vor der Kündigung. Ich schaffte unverzüglich den Mietvertrag herbei, und der Umstand, dass das Fenster im Mietvertrag überhaupt nicht erwähnt war und die von uns nochmals leidenschaftlich erwähnte, sich bei der Frau Direktor zu beruhigenden Gewissheit verdichtende Tatsache, dass der Jüngling wirklich unschuldig sei, da er seit heute Vormittag in unsern Diensten stehe und das Fenster demzufolge in den letzten fünfundzwanzig Jahren nie geöffnet worden sei und auch in den nächsten fünfundzwanzig Jahren ganz sicher nie mehr geöffnet werde, hielten die kaum zu Besänftigende davon ab, von uns die fristlose Entlassung des ruchlosen Voyeurs zu verlangen. Frau Knopf hatte inzwischen die Hausapotheke aus einer Schublade ihres Pultes hervorgeholt, um das *blutüberströmte, starrkrampfverdächtige“ Knie zu behandeln. Aber die tapfere Dame wies unsere unsachgemäße Hilfe ab und verlangte stattdessen, das ganze Haus inspizieren zu dürfen. Jedes Fenster, jeder Vorhang wurde auf seine Undurchschaubarkeit kontrolliert, und noch einmal und endgültig wurde festgelegt, welche Fenster zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen Umständen geöffnet werden durften und welche in ausnahmslos jedem Fall geschlossen bleiben mussten.