Weitere Minuten verstreichen. Nikoletta bäumt sich auf, stemmt sich auf die Knie und beugt sich über die Lehne des aufgestockten Kreißbetts. Ihre Kolleginnen flüstern. Allen Dreien kommt der gleiche Gedanke. "Ich will einen Kaiserschnitt", schreit Nikoletta. Noch zögern Hebamme und Ärztin, sie entscheiden, nicht Nikoletta. Die Wehen kommen nun alle zwei bis drei Minuten. Ab in den OP? Plötzlich kann Nikoletta pressen. Schweißnass überwindet sie die nächste halbe Stunde. Fest verkrampft sich ihre Hand in der ihres Mannes. "Wir schaffen das", sagt Jens.
Um 17 Minuten nach fünf rutscht Alexander in die Arme der Hebamme. Ein Schnitt trennt ihn von Mutter und Nabelschnur. Auf einen Schlag sind Nikolettas Schmerzen gewichen, die Stunden im Krankenhaus vergessen, die anstrengenden Monate der Schwangerschaft unbedeutend. Ihr kommen die Tränen, auch der Hebamme und der Ärztin glänzen die Augen – nicht jeden Tag holen sie den Nachwuchs einer Kollegin und Freundin ins Leben.
Jens atmet tief durch. Bei allen löst sich die Anspannung. Alexander brüllt kräftig, 52 Zentimeter misst er, 3.690 Gramm ist er schwer – geboren am 3. Februar 2012. Seine Zukunft hat begonnen.
*Namen von der Redaktion geändert
Lernen 2022
Hausaufgaben sind archaischer Unsinn
Statt "Buch vergessen" heißt es jetzt "Akku leer". Rechnen, schreiben und lesen lernen Kinder trotzdem. Aber wie? K. Polke-Majewski berichtet aus der Zukunft.
VON KARSTEN POLKE-MAJEWSKI
Die Klingel schrillt noch immer so durchdringend wie vor hundert Jahren. Wie zur Bestätigung bricht ein Stück Putz aus der Wand. Ein halbes Jahr noch, dann wird Alexander das alte Gebäude im Osten Hamburgs das letzte Mal betreten. Im Sommer 2022 wird er die Grundschule verlassen. Viele seiner Klassenkameraden werden auf die Stadtteilschule wechseln, eine Hamburger Art der Gesamtschule, die besseren jedoch auf das Gymnasium. Alexander wohl auch. Dann wird sich wieder ein Jahrgang aufspalten in diejenigen, die aufsteigen, und jene, die den Weg nach oben eher nicht schaffen werden, in die gut bezahlten Jobs und die besseren Wohnungen.
Alexander wird die Verankerung seiner Familie im akademisch-mittelständischen Milieu fast von alleine hinauf helfen, wenn er keine allzu großen Fehler macht. Anderen wird das nicht gelingen: weil ihre Familienstrukturen zu desolat sind, als dass sie im sich ständig verschärfenden Bildungswettbewerb eine echte Chance hätten. Weil sie um die deutsche Sprache ringen, die ihre Eltern nicht richtig beherrschen, obwohl schon ihre Großeltern nach Deutschland einwanderten.
An dieser sozialen Spaltung hat weder der Schulfrieden etwas geändert, den die Hamburger Parteien nach der gescheiterten Schulreform 2010 geschlossen hatten und der vor zwei Jahren endete, noch die anschließend abermals entflammte Bildungsdebatte. Das ist in der Hansestadt nicht anders als in den anderen Ballungsräumen der Republik.
Abgewetzte Kinderstühle
Alexander weiß davon wenig, wie er den Gang entlangflitzt und in den Klassenraum huscht. Niedrige Tische, kleine Stühle, nicht in strengen Reihen, aber ebenso abgewetzt und verkratzt wie früher. Bunte, ungelenke Kinderzeichnungen an den Wänden, ein Teppich in der Ecke, den zwei kleine Regale mit Spielen und Büchern einrahmen.
Man könnte meinen, gleich würden die Kinder ihre Hefte aus den Ranzen wühlen, Bücher auf die Tische knallen und eine freundliche Lehrerin würde ihnen erklären, wie man Tausenderzahlen addiert und subtrahiert, oder sie schrieben ein Diktat.
Doch dann ruft die Lehrerin Alexander auf. Der Junge zieht einen USB-Stick aus dem Rucksack, und während zwei andere Jungs und er sich zwischen den Tischen nach vorne drängen, erscheint auf der weißen Tafel eine bunte Karte. Die Elbe, daran rote Punkte, Städte, und, von Alexanders Stick dazu geladen, eine Collage. "Dessau-Roßlau" ist zu lesen.
Die drei bauen sich vorne auf. Alexander redet, die beiden anderen Schüler bedienen den Rechner. Als Alexander "Marienkirche" sagt, zeigt die Tafel ein Foto. Als er vom Wörlitzer Gartenreich erzählt, schwenkt die Kamera um 360 Grad durch den berühmten Park. Und zum Bauhaus haben die Jungs einen Video-Rundgang im Internet gefunden.
Ganz schön das alles. Aber eigentlich träumt Alexander davon, dass endlich Hologramme erfunden werden, durch die man richtig laufen kann. Wie gerne würde er die Klasse durch eine lebensgroße Projektion der Stadt führen, am besten bis hinauf auf den Turm der Marienkirche, von wo sie ganz Dessau hätten betrachten können.
Auch so ist die Show nicht schlecht. Doch die Klasse lässt sich davon nicht beeindrucken. Ein Mädchen platzt mitten in die Präsentation: "Warum heißt das Bauhaus?" Die Kinder diskutieren. Alexander weiß es auch nicht so genau. Sein Teampartner sucht: Vielleicht hilft Wikipedia weiter?
Etwas abseits der wild debattierenden Horde sitzt die Lehrerin und tut – ja, was eigentlich? "Meine wichtigste Aufgabe ist es wohl, mich rauszuhalten", sagt sie. Die Kinder sollen selbst steuern, wie sie voneinander lernen wollen. Sie sollen ihre eigene Geschwindigkeit finden, sollen sich darin üben, Gedanken voreinander zu formulieren und gemeinsam zu filtern, was wichtig ist zu wissen. Nur manchmal greift die Lehrerin ein, wenn sich die Schüler im Strom der Informationen verlieren.
Für jemanden, der im Schuldienst arbeitet, ist das nichts Besonderes. Vermutlich ist es sogar eher gewöhnlich, spiegelt schon nicht mehr den allerneusten Trend der modernen Pädagogik wieder. Für alle, die vor mehr dreißig Jahren zum letzten Mal eine Schule betraten, ist es wie ein Flug mit der Zeitkapsel.
Die Art und Weise, wie wir Bildung organisieren, verändert sich in langgezogenen Wellen. Seit die Republik vor mehr als siebzig Jahren gegründet wurde, haben sich zwar fast unablässig Bildungsstrukturreformen an Schulreformen gereiht. Doch die Methoden, nach denen Lehrkräfte den Unterricht gestalten, wandeln sich eher langsam. Jahrzehntelang lernten Lehrer in Studium und Referendariat einmal, wie Unterrichten funktioniert, und hielten sich dan – mit wenigen Abwandlungen – ein ganzes Arbeitsleben daran. Fortbildung gab es zwar, doch was im Klassenraum geschah, war allein dem Lehrer überlassen.
Deshalb gibt es auf die Frage, was sich in der Schule durch die Jahrzehnte verändert hat, zwei richtige Antworten. Die erste: gar nichts. Die zweite: alles.
Gar nichts, weil es im Grundsatz immer noch darum geht, die gleichen Fertigkeiten zu erlernen wie schon vor hundert Jahren: Rechnen, Lesen, Schreiben, sich in einer sozialen Gruppe zurecht zu finden, Methoden zu lernen, mit denen man die Welt erschließen kann.
Alles, weil sich die Welt außerhalb der Schule so unglaublich schnell wandelt und mit ihr die Kinder.
Englisch? Ist kein reguläres Schulfach mehr. Längst finden ganze Unterrichtseinheiten in der Sprache statt, bringen die Kinder aus dem Kindergarten reichlich alltägliche Spracherfahrungen mit, oder aus amerikanischen Online-Spielen. Medienkunde? Eine überholte Idee. Alexanders Rucksack ist doch deshalb so leicht, weil außer einigen Heften, Bastelutensilien und den Turnschuhen nur ein Tablet-Rechner darin ist, inklusive Sprachsteuerung und Netzzugang. Statt "Buch vergessen" heißt es heute "Akku leer".
Vom Bauhaus zum Fußball. Alexander stürzt in die Halle. Dort warten schon seine Mannschaft und der Trainer. Zehn Minuten wildes Bolzen, dann Taktiktraining. So geht das jeden Tag. Zwei Stunden Unterricht, dann muss Freizeit sein, Klarinettenstunde, Kochkurs oder eben Fußball. Danach wieder Unterricht.
Schule, das ist längst keine Einrichtung mehr, die um acht Uhr morgens beginnt und die man um ein Uhr mittags fluchtartig verlässt. Seit in der großen Mehrheit der Familien Mutter und Vater arbeiten, ist die Ganztagsschule Standard. "Das ist hier endgültig keine Lehranstalt mehr, sondern der wichtigste Lebensraum für die Kinder", sagt die Lehrerin. "Und so müssen wir ihn auch gestalten."
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