Keuchend standen wir still da, eng verbunden. Es schien so, dass keiner von beiden den andern zuerst loslassen wollte.
Die Notbeleuchtung flackerte. Wir zuckten zusammen. Plötzlich wurde wohl uns beiden klar, dass der Fahrstuhl jeden Moment wieder anfahren konnte! Und er, als Juniorchef, in dieser Situation …
Hastig zogen wir uns an, sahen in den Spiegel, zupften unsere Kleidung zurecht und glätteten unsere Haare. Auf unseren Hosen gab es einige Flecken. Wir hielten die Jacketts davor. Unsere Krawatten saßen schief, wir wirkten beide erhitzt.
Da flammte die richtige Beleuchtung wieder auf. Mit einem quietschenden Seufzen setzte sich die Liftkabine in Bewegung.
Ich atmete tief ein und sah Harro an. Er nahm seine Aktentasche, blickte noch einmal in den Spiegel und lächelte mir zu.
»Ich hoffe, wir sehen uns heute Abend!«, flüsterte er. Da schoben sich die Stahltüren bereits langsam auf. Wir waren im sechzehnten Stock.
Zum Glück stand keine Menschentraube im Vorraum. Die anderen hatten einfach den zweiten Aufzug benutzt und gar nicht gemerkt, dass jemand feststeckte.
»Bis nachher, Mathis!«, zischte Harro leise.
Der Alte sah mich missbilligend an, als ich endlich im Meetingraum erschien. Um den Tisch herum saßen etwa zehn Kollegen, die schadenfroh feixten.
»Sie kommen zu spät, Herr Schöne!«, donnerte der Senior los. »Erheblich zu spät!«
»Kein Wunder!«, hörte ich Harros Stimme. Er war hinter mir hereingekommen. »Vielleicht sollten die Aufzüge mal repariert werden!«, wetterte er. »Wir waren eine Dreiviertelstunde eingeschlossen, weil der Notrufknopf kaputt ist!«
»So?« Der Alte musterte mich sauertöpfisch, dann seinen Sohn. Wahrscheinlich dachte er an die unvorhergesehene Geldausgabe. Was wirklich passiert war, daran dachte er bestimmt nicht. »Also, nun sind Sie da, Herr Schöne, und wir möchten etwas von Ihnen hören!«
Mit noch ziemlich weichen Knien und feucht im Schritt ging ich zum Beamer und stellte alles für meine Präsentation ein. Ich blickte noch einmal ganz kurz zu Harro hin. Er blinzelte mir unauffällig, aber sehr zärtlich zu.
***
Der Leuchtturm
Mit Eugen hatte es Krach gegeben. Wir waren beide zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht zusammenpassten. Eigentlich ein Wunder, das wir es überhaupt ein halbes Jahr miteinander ausgehalten hatten. Eugen ist eine Zimperliese. Im Sommer jammert er über die Hitze, im Winter über die Kälte. Bei Regen ist es ihm zu nass, und in der Natur schwirren ihm zu viele Insekten um den Kopf. Ich gehe nun mal gerne raus ins Freie, es darf auch regnen und kalt sein, und ich liebe das einfache Leben. Eine Decke und eine Wasserflasche reichen mir für ein Wochenende im Wald oder am Strand. Mein Geld verdiene ich als Tiefbauingenieur, da bin ich auch viel draußen, zum Glück.
Also, wir hatten uns getrennt. Eugen zog durch die Kneipen, und ich zog am Wochenende los an die Nordsee. Ich hab da einen Bekannten, Danko, in der Nähe von Cuxhaven, mit dem ich schon mal eine nette Nacht verbracht hatte. Aber vorher wollte ich mir den Kopf durchpusten lassen vom Seewind und meinen Ärger über Eugen vergessen.
Noch etwas angespannt trottete ich über den menschenleeren Deich. Die Nordsee lag bleiern grau da, ziemlich ruhig, also keine hohen Wellen. Es wehte nur ein schwacher Wind, jedenfalls hätten die Küstenbewohner ihn höchstens als leichte Brise eingestuft. Draußen auf See konnte man ein größeres Schiff mehr ahnen als sehen. Es war nämlich ziemlich dunstig an dem Tag. Na, es war Spätherbst, fast schon Winter, da konnte man keinen blauen Himmel erwarten. Mir machte das griesegraue Wetter nichts aus. Ich genoss die feuchte, salzige Luft, atmete sie tief ein. Ich konnte das Meer riechen, als ob ich das Wasser einatmen würde. Wie Eugen seine Freizeit in einer verräucherten Kneipe verbringen konnte, war mir ziemlich schleierhaft.
Ich setzte mich ins nasse Gras und schaute zu, wie das Wasser langsam weniger wurde. Bald würde Niedrigwasser sein. Nur noch ein paar Priele schimmerten hell zwischen den weiten Schlickflächen. Möwen und Seeschwalben kreisten schreiend über dem Schlamm. Ich hatte Lust, direkt ins Watt zu gehen. Das hatte ich früher schon öfter gemacht, nicht übermäßig weit, so ohne kundigen Führer, aber weit genug, um mich frei und unabhängig zu fühlen. Ich zog also meine Schuhe und Socken aus, krempelte die Hosenbeine hoch, kletterte den Deichhang hinunter und lief über den Sandstrand. Ein paar zerbrochene Strandkörbe warteten noch auf ihre Entsorgung. Leute waren weit und breit nicht zu sehen. Am Spülsaum hatte sich Tang angesammelt. Ich setzte den Fuß in den weichen Schlick. Es war angenehm, dieses glitschige, rutschige Zeug an den nackten Zehen zu spüren. Der Schlamm quoll über meine Füße. Bei jedem Schritt saugte und schmatzte es. Das Watt kam mir fast vor wie ein lebendiger Körper, der mich vereinnahmen wollte und mich nur ungern wieder freigab.
Eine ganze Stunde etwa musste ich schon gewandert sein, als mir auffiel, dass die Sicht noch schlechter geworden war. Der Dunst zog sich weiter zusammen und legte sich über den Strand. Na, ich sorgte mich nicht weiter, ich wusste ja, auf welcher Seite das Land und auf welcher das Meer war, und Zeit bis zur Flut am Abend war noch reichlich. Im Gegenteil, die schlechtere Sicht brachte mich auf den Gedanken, mir in der freien Natur einen runterzuholen. Einfach ins Watt abladen! Nur ich und die See und sonst nichts. Ich merkte, wie schon der Gedanke mich erregte. Langsam rieb ich mir über die Schwanzbeule. Ich öffnete die Knöpfe an meinem Hosenstall. Es war ein tolles Gefühl, meinen Steifen einfach an die frische Luft zu ziehen, ohne dass Gefahr bestand, von irgendwelchen Leuten angeranzt zu werden. Vor Jahren war ich mal in einem FKK-Club, aber da bin ich rausgeflogen, weil ich zwischen den andern Nackten gewichst hatte. Der Mensch hat sich einfach zu weit von seiner Natur entfernt, das ist das ganze Dilemma.
Genießerisch streichelte ich meinen hitzigen Kolben. Er wuchs immer weiter. Wenn die Hydraulik richtig ausfährt bei mir, muss ich mich in puncto Format wirklich nicht verstecken.
Eine Möwe kam plötzlich im Sturzflug auf mich zu und streifte fast mein Gesicht. Ich machte einen Schritt zur Seite. Da sank mein rechtes Bein bis zum Knie in den Schlamm. Das war mir nun doch etwas unheimlich. Ich ließ meinen Ständer los und versuchte, das Bein herauszuziehen. Dabei rutschte auch mein linkes Bein tiefer. Offenbar war mit dem Wattenmeer nicht zu spaßen.
Beim nächsten Versuch verlor ich das Gleichgewicht und fiel – platsch – vornüber. Schlamm im Gesicht ist nun doch übertrieben naturnah. Und mit der Hydraulik war es auch vorbei, denn der kalte Schlabber am Schwanz wirkte ziemlich ernüchternd. Dafür löste sich durch die Hebelwirkung das rechte Bein schmatzend aus dem Schlick. Ich war wieder frei, sah aber aus wie ein Schwein in der Suhle. Okay, bei Danko konnte ich ja duschen und meine Sachen waschen – wenn er zu Hause war. Ich hatte mich gar nicht angemeldet. Es wurde wohl Zeit, zum Strand zurückzugehen. Ich sah mich um – es war kein Land mehr in Sicht!
Der Nebel hatte sich so zugezogen, dass ich die Hand kaum noch vor Augen sah. Und durch meine Befreiungsversuche und den Sturz hatte ich die Richtung verloren. Wo war die Küste?
Ein bisschen mulmig wurde mir nun doch. Ganz alleine im Watt, überall Nebel – und irgendwann würde das Wasser steigen!
Ich riss mich zusammen. Kühlen Kopf bewahren!, befahl ich mir selbst. Ich versuchte, den Sonnenstand herauszubekommen, aber ebenso gut hätte ich nach dem Mond suchen können; es war absolut nichts zu sehen. Vielleicht die Vögel? Die flogen doch bestimmt Richtung Küste? Leider waren die Biester verschwunden. Eine totale, beängstigende Stille umgab mich.
Auf einmal riss mich ein tiefer, lang gezogener Ton aus meinem leicht panischen Grübeln. Was war das? Pause, dann wieder das tiefe Tröten. Ja, das musste ein Nebelhorn sein! Die Steuerleute