Ilka. null crodenius. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: null crodenius
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847626305
Скачать книгу
und Tragik des Alltags miteinander zu verbinden und mich für Momente aus meiner Lethargie zu reißen. Leider war dieser Augenblick viel zu kurz, da er schon an der nächsten Station aussteigen musste. Seit diesem Zeitpunkt nun war ich in eine andere Welt entrückt.

      Ich schwebte auf einer Wolke. Kein Tag, an dem ich nicht die Heimfahrt ersehnte, ja, ich lebte nur noch für diesen Augenblick, der mich für all das entschädigte, was ich im Alltag an Bosheiten und Kränkungen zu erfahren meinte. Fortan nahm ich also nur noch die Bahn, dabei bemüht, stets zur gleichen Zeit im gleichen Abteil zu sein. Und wenn er da war, verging ich vor Glück, hingen meine Augen an ihm, dass ich alles andere vergaß. Blieb er hingegen aus, brach augenblicklich Eiseskälte über mich herein, was mir die ganze Leere und Sinnlosigkeit meines Seins offenbarte.

      Bald trafen wir uns öfter, und ich konnte ohne diese Treffen nicht mehr leben. Ein völlig neues Gefühl hatte sich meiner bemächtigt, deren Tiefe und Intensität ich niemals für möglich gehalten hätte. Die ganze Welt schien plötzlich wie verzaubert. So schlenderten wir bei strömendem Regen durch die Straßen, saßen bar jeden Zeitgefühls stundenlang auf Bänken, allein unseren Gedanken verhangen.

      Oft nahm er mir die Antwort vorweg oder sagte, was ich gerade dachte; umgekehrt erriet ich oft seine Gedanken und verblüffte ihn mit meiner Direktheit. Das war schon fast unheimlich. Ich übertreibe sicher nicht, wenn ich gestehe, dass ich hoffnungslos verliebt war, zumal ich fühlte, dass auch er ebenso empfand. Und mit dieser Gewissheit wurde aus mir allmählich ein anderer Mensch. Mein Gemüt wurde ausgeglichener, meine Sinne ruhiger; ich empfand intensiver, klarer. Mein Argwohn und meine krankhafte Hypersensibilität klangen ab und wichen einer allgemeinen Toleranz. Bald gab es kaum noch etwas, was mich aus der Ruhe brachte, und wenn, war es spätestens zum nächsten Treffen vergessen.

      Ich wäre sicher der glücklichste Mensch auf Erden gewesen, hätte es nicht dennoch etwas gegeben, was mich beunruhigte. Es war einfach der Umstand, dass er trotz aller Tiefe und Offenheit unserer Dialoge niemals über sich sprach und wenn, blieb er nur sehr allgemein. So erfuhr ich lediglich, dass er gleich in der Nähe arbeitete und Sebastian hieß. Dabei konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihn etwas bedrückte. Ich spürte einfach, dass er Hilfe suchte, und ich hätte sie ihm so gern gegeben, doch eine unerklärliche Scheu hielt mich davon ab. So blieb er denn, trotz aller Vertrautheit, in diesem Punkt für mich ein Fremder.

      Aber eigentlich störte es mich nicht wirklich. Es war ja ohnehin nicht wichtig, und ich trug mich allen Ernstes mit den Gedanken, ihn alsbald meinen Eltern vorzustellen. Natürlich wusste ich, dass einer Familie wie der meinen suspekt sein musste, aber das scherte mich nicht. Irgendwann schließlich nahm ich also all meinen Mut zusammen und brachte ihn mit nach Hause, obwohl er sich lange dagegen sträubte. Als wir nun vor unserem Haus standen und er die prächtigen Rabatten sah, als man ihm beim Eintreten die Jacke abnahm und uns in den kleinen Salon geleitete, verstummte er. Noch heute sehe ich ihn, wie er zaghaft eintrat und verwundert, die Mütze in der Hand, den kristallenen Kronenleuchter betrachtete. Und ich zeigte ihm noch weitere Kostbarkeiten, wie den ‘Renoir’ in Papas Arbeitszimmer, oder den vergoldeten Kronleuchter meiner Großmutter - zwei Erbstücke meiner Mama, worauf sie immer ganz besonders stolz war. Als sie kurz darauf eintrat und uns beide bemerkte, war sie sichtlich erschrocken.

      Papa hingegen, der an diesem Tage etwas früher von der Uni gekommen war, reagierte nicht minder überrascht. Augenblicklich verschwand sein ansonsten so liebenswürdiges Lächeln, seine Haltung straffte sich und er klemmte sein Monokel ins Auge. Dann betrachtete er den Neuling, wenn auch etwas streng, so doch im Grunde wohlwollend. Schließlich begann er ein Gespräch in der für ihn typisch spitzfindigen, etwas hinterhältigen Art, wobei er durchaus freundlich und einfühlsam vorging und alles vermied, was ihn hätte verletzten können. Sie müssen nämlich wissen, dass Papa als alter Psychologe offenbar sofort wusste, wie es um ihn bestellt war, während ich in meiner allgemeinen Vernarrtheit, vieles nicht sah, was ich eigentlich hätte sehen müssen. Doch obwohl er sich alle Mühe gab, war auch jetzt kaum mehr über ihn zu erfahren, nicht genug jedenfalls, um sich seiner Redlichkeit zu versichern - und das beunruhigte mich.

      Noch am selben Abend kam mein Vater in mein Zimmer, setzte sich auf mein Bett. Er wirkte seltsam zerstreut und abwesend, was mich beunruhigte, denn ich fühlte sofort, dass etwas geschehen war. ‘Du liebst ihn, nicht wahr?’ fragte er schließlich unumwunden. Doch ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er sogleich fort, was eigentlich nicht seiner Art entsprach. Es war ein konfuses Durcheinander von Argumenten und Gegenargumenten, welche auf der einen Seite für, auf der anderen gegen uns sprachen, doch in der Endkonsequenz etwas ganz Eindeutiges zum Ausdruck brachten. Nun war mein Vater viel zu diplomatisch, mir irgendetwas zu oktroyieren, sondern setzte als Pädagoge stets auf Überzeugung. Ich jedoch war entsetzt und weigerte mich strikt, seinem Ansinnen auch nur im Ansatz zu folgen. Und angesichts meiner Verzweiflung, die ihm sicherlich das Herz brechen musste, blieb ihm nichts, als nun mit der ganzen Wahrheit herauszukommen.

      So erforschte er wiederum Dinge, die mich zunächst verwirrten, z. b. ob wir vor seinem Eintreffen im kleinen Salon gewesen wären und wenn, wie lange, und vor allem, ob er alleine dort gewesen sei. Allmählich verstand ich, ohne jedoch wirklich zu begreifen. ‘Leider ist es so’, schloss er schließlich mit gewohnter Sachlichkeit, erhob sich und sah mit langem Schweigen zur Wand. Der Gegenstand, den er vermisste, war das goldene Etui von seinem Sekretär. Ich kannte meinen Vater zu genau, um zu wissen, dass er nicht log, nicht in einer solchen Sache. Doch gleichviel, ob zu Recht oder Unrecht - einzig der Verdacht erschütterte mich derart, dass augenblicklich alles in mir zusammenstürzte. Am Ende wurde mir klar, dass es nicht mehr um dieses Etui ging. Allein der Umstand, dass nur er dafür in Frage kam, brach mir das Herz.

      Fortan war nichts mehr wie zuvor, denn alles, woran ich geglaubt, woran ich mich geklammert hatte, all meine Hoffnungen, Sehnsüchte und Träume waren zerbrochen. Mir war, als stünde ich plötzlich am Ende einer Treppe, die in einen tiefen Abgrund mündet ... Aber was rede ich. Selbst jetzt, nach all den Jahren, bekomme ich Herzweh, denke ich daran zurück... nun, was soll ich noch sagen: Das Etui hatte sich ein Jahr später wieder eingefunden, es war hinter den Sekretär gerutscht und hatte sich dort so unglücklich verklemmt, dass es die ganze Zeit unbemerkt geblieben war.“

      Schweigen. Die Frau wischte die Scheibe frei, indes ein erster purpurner Schimmer den erwachenden Morgen verriet. Im Dämmerlicht flogen Landschaften vorbei, mal hüglig, dann flach, von Buschgruppen und aufgefächerten Baumreihen durchschnitten. Eine verlorene Einsamkeit lag über dem Land.

      Ringsum war es längst still geworden, alles schlief, nur das dumpfe Klacken der stählernen Räder, das den Zug auf ganzer Länge durchrollte, zerriss das tiefe Schweigen.

      „Haben Sie denn niemals versucht, die Sache aufzuklären?“, wollte Ilka nach einer Weile wissen, wobei in ihren Worten eine gewisse Entrüstung lag.

      Die Frau zögerte. Offenbar wollte sie nicht weiter daran erinnert werden und begann von anderen Dingen zu reden, von ihrer Familie und ihren Kindern, die mittlerweile längst erwachsen waren. In gequälter Heiterkeit suchte sie sich darüber zu verbreitern und geriet regelrecht ins Schwärmen, als sie von ihren Enkeln sprach. Und dennoch nagte der tiefe Kummer an ihren Zügen. So kehrte sie denn irgendwann von selbst zu diesem Thema zurück.

      „Wissen Sie, vieles in unserem Handeln ist allein mit Vernunft kaum zu erklären. Denn obwohl ich wusste, dass es falsch war, blieb ich aus irgendeinem Grunde passiv. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber ich war unfähig, überhaupt etwas zu tun, was nur im entferntesten unsere Beziehung hätten erhalten können, weil... nun, weil...“, sie unterbrach sich und holte tief Luft, bevor sie weiter sprach, „vielleicht weil mir meine Karriere am Ende doch wichtiger war - und heute schäme ich mich dafür.“

      Erneutes Schweigen. Einen Moment schien ihr Geständnis sie zu bereuen, war Scham und Wut in ihren Zügen, doch dann lächelte sie verlegen.

      Das kurz darauf einsetzende Quietschen der Bremsen begann sie zu erlösen. Eine allgemeine Unruhe entstand. Die Fahrgäste erwachten und begannen ihre Sachen zu richten. Draußen zogen einige blasse Laternen vorüber, der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie waren angekommen.

      Ilka erschrak, denn sogleich fiel ihr der Matrose