Die Karte ist zwar klein, aber durchdacht. Ich wähle Gebirgsnockerln auf Murmelfett, dazu Hausbier, grünen Salat und als Nachspeise: Mousse au Kintolo.
Der Almkaffee versteht sich von selbst.
Aber auch sonst kommt einiges auf die Tische: Enziansouffle, Bergomeletten, Almgrütze, Edelweißpastete und Steinbockleber und ganz besonders: Wildschweinspeck. In zweifacher Ausführung. Denn an der Wand hängt die eindrucksvolle Trophäe eines Ebers, mit hochgezogenen Lefzen und gefährlichen Hauern und auf den Tellern der Hüttengäste, sein Hinterteil, gesalzen und gepfeffert; man weiß ja, wie das ist.
Isabella und Fräulein Blau teilen sich zu zweit eine Hausplatte, das geht sich locker aus, denn ungewöhnlich groß ist die Portion! Beim Verkosten der ersten Spezialitäten ein Blick von Isabella. Sie nimmt einen Happen Enzianparfait und sieht zu mir, voller Zustimmung; ihr Blick beinhaltet unser gemeinsames Erlebnis im Wald, die Gewißheit, daß wir etwas erfahren, das immer da ist, aber nur durch Gnade geschenkt wird, durch die Pforte des empfänglichen Herzens: das Rehgeheimnis.
Aber auch sonst geht es zünftig zu. Die Hüttenherrlichkeit hat allen viel gebracht und die Riemen gelockert. Nur der Clown hat noch immer sein violettes Stirntuch auf und grinst schmierig Überheblichkeit. Seine Lippen und sein Kinn glänzen, von Bier und Murmelschmalz. Und dann macht er einen Witz, der einen Stilbruch einleitet: einen Witz über punktierte Speckfalten. Im ersten Moment glauben die Anwesenden nicht recht zu hören - punktierte Speckfalten? Vereinzelte reagieren mit Räuspern und Befangenheit, manche mit Glucksen. Die Situation ist unklar. Der Clown braucht die Zustimmung mindestens der Hälfte der Gruppe und wartet zu; aber schon bald setzt er nach, wieder mit einer Bemerkung über punktierte Speckfalten. Nochmals ist es unsicher, aber dann erschallt ein Lachen, gefolgt von weiteren: die Gruppe hat´s gefressen.
Neben meinem Teller liegt eine Serviette. Ich zupfe ein Stück ab, drehe und wende es zwischen meinen Fingerkuppen und: zermalme es.
Nun ist der Clown nicht mehr zu halten. Er glaubt, er ist nun der Obermacher und muß den Ton angeben. Die Steinbockleber ist plötzlich die `Turboleber´, das Bier rinnt schneller nach, als die Blase durchläßt und die Kintolen, die waren in Wirklichkeit arme Hunde. Mit Spreitzfüßen.
Ich finde es N-I-C-H-T witzig.
Die Menge lacht und läßt sich die zweite Runde Bockbier bringen; soeben servieren Kellnerinnen mit breiten Hüften und unterstützen den Wirt.
Und als der Clown den Wirt auf seinen Bart anspricht, um ihn in ein Gespräch zu verwickeln, läßt sich dieser nicht lumpen. Er setzt sich an den Rand der Bank und gibt sich gesellig. Eine Doppelconference entsteht. Die Fliege, der Clown, wirft einen Brocken vor, plumper Superlativ, durchwegs Allgemeinposten und der Wirt antwortet mit feiner Klinge und intelligentem Humor; die Menge brüllt.
Das animiert auch Leute vom Strebertisch näher zu rücken; mein Chef, nach zwei Gläsern Wein, noch immer kerzengerade, doch mit einem Glanz in seinen Augen.
Ich reiße weitere Stücke von meiner Serviette und zerknülle sie.
Und der Clown spielt zu allem Überfluß den Gentlemen - ein E-C-H-T-ER Witz. Für die schönsten Fräulein zwischen dem Blumenberg und dem Almenland, zwei Alpencocktails mit Gletschereis! Bestimmt für Isabella und Fräulein Blau!
Ich nehme den Rest meiner Serviette und zerknülle sie: als ganzes und ungebraucht.
Inzwischen sind auch Leute von der anderen Ecke der Hütte aufmerksam geworden und kommen ins Gespräch. Es erweist sich, daß das Naheverhältnis größer ist, als vermutet. Erstens ist die Gruppe daneben auch auf Betriebsausflug und zweitens stellt die dazugehörige Firma Kleiderbürsten her, nur für vornehme Garderobe! Wer hätte das gedacht!
Der Clown wirft sich in Pose und treibt die Hütte mit kreisenden Armschwüngen zu einem dreifachen Zicke, Zacke – Heu, Heu, Heu! Ein Prost auf die Bürstenhersteller!
Und dann, ist es der Alkohol oder einfach die ungebremste Dummheit, der Clown kommt von der Toilette (schon fünf Bockbiere und drei Alpencocktails intus) und verkündet unter großem Wirbel, auf dem Lokus sei ein alter Kintole! Er habe ihn mit eigenen Augen gesehen, ein riesiger Bursche, unheimlich und schwer, mit funkelnden Augen! Sogleich steht einer der Kollegen auf, mit vorgeschobener Brust, rennt los, verschwindet, rutscht auf der Toilette aus und kommt mit blutüberströmtem Gesicht zurück; die Hüttenfrau, eine ehemalige Krankenschwester, kann nur den Verbandskasten auftischen, doch ohne Betäubungsmittel: Verbandsrolle, Faden, Desinfektionsmittel und eine Nähnadel, desinfiziert an der Hüttenkerze.
Endlich zieht Chef die Notbremse; er ordert die Rechnung. Der Hüttenwirt selbst erledigt das und macht einen guten Preis, für besondere Gäste und Freunde, versteht sich. Darauf gibt Chef ein Trinkgeld, mit dem sich die Hüttenfenster fünf mal streichen lassen und die Bänke dazu. Das wieder kann der Wirt nicht auf sich sitzen lassen und ruft sogleich in die Küche: Chefin, eine Runde Zirbenschnaps für alle, der Wirt bezahlt!
So geht es eben her und Fräulein Krüger verzichtet auf das Protokoll. Schließlich ist es ein allgemeines Aufbrechen; letzte Verabschiedungen werden absolviert, Beistände vermittelt. Die Wanderstöcke nicht vergessen! Und Vorsicht vor den zwei Stufen am Ausgang! Ja, danke, herzallerliebst!
Draußen auf dem Vorplatz wartet bereits der Bus mit Fahrer Franz. Der Motor läuft schon und hat die Sitze vorgewärmt. Die drei Stufen des Busses erweisen sich als Kletterpfad, mindestens mit Schwierigkeitsgrad neun. Wir besteigen ihn ungesichert!
Endlich läßt Fräulein Krüger durchzählen. Doch auch nach dem zweiten Mal kommt es zu einem unbefriedigenden Ergebnis: zwei Personen fehlen. Die Verantwortlichen sind ratlos. Kann sich so viel Wildschweinspeck und Alpenbräu einfach auflösen? Wo wurden die Kollegen zuletzt gesehen? In der Wirtschaft? Auf dem Gipfel? Oder gar schon beim Anstieg? Niemand weiß es. Die Kintolen, murmeln manche und sind froh, bereits im Bus zu sitzen.
Schließlich kommt die Antwort von der Hütte: die Tür springt auf, die beiden Vermißten erscheinen, eingehängt und mit erheblichem Seegang; einer hatte den anderen gesucht und auf der Toilette gefunden, da war er aber schließlich selbst eingeschlafen - die Kintolen enttäuschen.
Und so kommt es, wie es kommen muß. Alle sind müde vom Wandern und die Sitze des Busses so gut wie das Bett zu Hause. Chef gibt das Zeichen zur Abfahrt und es geht los; an Bord Isabella, mein Schatz; würde sie fehlen, der Schnitt würde fallen, zweistellig und nicht nach dem Kommazeichen. Franz chauffiert uns geschmeidig, von Serpentine zu Serpentine, durch tief reichende Kurven; und die Berge, getaucht in Orange, in abendliches Glühen; die alpine Romantik ist der würdige Abschluß. Und irgendwo dazwischen, ein unbestimmtes Gefühl, ganz weit hinten, vielleicht eine Einbildung: die Konkurrenz hat mehr wie dreckige Griffel und Unterhosen mit Muster keine Angst im dunkeln ...
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Tags darauf habe ich drei große Kater im Quartier; einen in den Oberschenkeln, einen in der Peristaltik, er ernährt sich von Murmelschmalz und Alpenbräu, das größte Raubtier jedoch im Oberstübchen. Und alles nicht mal selbst bezahlt.
So hilft nur eins: Mama Martha und ihr Ölgemälde. Die Götter haben entschieden - schon Mittwoch nachmittag ist wieder Kurs und die Muse mein Rettungsanker.
Wie immer geht Mama Martha zwischen den Staffeleien umher und läßt uns in Freiheit schaffen, dann und wann ein freundlicher Blick, eine ermunternde Geste, doch niemals Bedrängung; sie ist unsere Mentorin, die Mutter aller Pinsel.
Und überall im Raum der vertraute Geruch von Terpentin und Malfarbe!
Meine Arbeit schreitet voran. Ich habe besonders viel Rosa auf der Leinwand, in verschiedenen Formen, aber auch Speigelb und Lila, der Pinsel mischt intuitiv. Zu den rein abstrakten Formen kommt diesmal auch Figuratives, ganz in Weiß und gestellt in eine Landschaft. Ich reise durch meine Zeit und erschaffe die Welt.
Als sich die Praxis dem Ende zuneigt und überall die Farben noch kräftig glänzen sind, äußert sich einer der Kollegen.