„Das Taxi wartet“, unterbrach Henriette Heinrichs Ausführungen mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Sie blieb stocksteif in der offenen Tür stehen.
„Ja, ja, er kommt gleich“, sagte Heinrich mit einer verärgerten Handbewegung in ihre Richtung. Plastrothmann erhob sich aus seinem Sessel, gab seinem alten Mentor wortlos die Hand und wollte den Raum verlassen. Mit scharfer Stimme hielt Heinrich ihn zurück, befahl Henriette den Raum zu verlassen und die Tür zu schließen.
„Konrad ist einverstanden. Er wird am Sonntag um 17 Uhr mit Gertrud zum Tee kommen. Ich bestehe nicht nur auf deinem Erscheinen sondern setze deine uneingeschränkte Kooperation voraus! Krieger hat dich sonst in der Hand. Wir müssen handeln!“
Plastrothmann versteckte seine Wut hinter einer knappen Verbeugung, die Heinrich als Zustimmung wertete. Es war einer der Taxifahrer, der ihn und sein Ziel kannte. So ließ er sich wortlos auf den Rücksitz sinken und versuchte den angestauten Unmut durch äußerliche Ruhe in den Griff zu bekommen. Er konnte sich nicht erinnern, schon jemals solchem Gefühlsansturm ausgesetzt gewesen zu sein. Tatsächlich fühlte er sich wie die buchstäbliche Maus in der Falle, wie das von der Schlange hypnotisierte Kaninchen. Seine schöne heile Welt, sein ruhiges Leben schien sich in Nichts aufzulösen. Heinrich forderte den Preis für seine Zuneigung, sein Protektorat.
Plastrothmann war stocksauer, egal wer ihm durch die Geschichte mit Ronald ein Bein stellen wollte, Heinrich nutzte K.’s Ambitionen schamlos aus, um ihn unter Druck zu setzen. Endlich in die Partei eintreten, Gertrud heiraten und die Träume des alten Mannes, in ihm fortzuleben, weiter zu wirken über den Tod hinaus, erfüllen. Heinrich, die graue Eminenz, der Fadenzieher, der Macher, wollte durch ihn die geistige Unsterblichkeit erlangen.
„Halten Sie an“, forderte er den Taxifahrer auf, „ich gehe den Rest zu Fuß!“
Die kühle Nachtluft wirkte für einen Moment erfrischend. Gertrud, dachte er mit einem Anflug von Zynismus. Eine gute Wahl. Nein, die richtige Wahl. Sechsunddreißig Jahre alt. Der Vater, in zweiter Ehe verheiratet. General der NVA. Er und Heinrich kennen sich von der Wehrmacht. Heinrich stammt aus dem Westen, hat nach dem Krieg Geschäfte in der amerikanischen Zone gemacht. Gertruds Vater stammt aus einer alten Offiziersfamilie in Brandenburg, setzte seine Karriere in der NVA nahtlos fort. Der Fall der Mauer hat die beiden alten Kameraden wieder zusammengebracht, zusammengeschweißt. Zwei alte Männer, die nicht aufhören, vom Endsieg zu träumen. Und ich bin ihr auserwähltes Werkzeug. Heinrich sitzt wie eine Spinne im Netz. Dirigiert alles. Und ich soll sein Nachfolger werden. Dabei ist K. der geeignetere Mann! Meinen Segen hat er! Und Gertrud würde auch viel besser zu ihm passen. Diese kühle, drahtige Blondine. Herrisch und dumm. Nur fällt ihre Dummheit kaum ins Gewicht. Sie hat ein geradezu phänomenales Gedächtnis. Es bereitet ihr daher keinerlei Mühe, nachtragend zu sein. Mir als Ehefrau offeriert zu werden, verschafft ihr sicher eine enorme Genugtuung!
Fast wäre er an der Eingangstür zum ‘Chez Barbra‘ vorbeigelaufen. Er schüttelte den Kopf, als könne er dadurch die lästigen Gedanken vertreiben. Seit Jahren war er Stammgast in diesem Lokal. Freitags und samstags war er immer anwesend, wartete für gewöhnlich ein reservierter Tisch auf ihn. Er genoss diese Abende, soff jedes Mal mindestens eine halbe Flasche Tequila mit viel Mineralwasser zwischendurch. Und hörte auf zu denken. Dachte nicht an Heinrich, nicht an seine richtige Mutter, nicht an seine toten Eltern, nicht an seine Arbeit in der Kanzlei und nicht an die Partei. Entschlossen straffte sich sein Körper. Er stieß die Tür auf, ging grußlos an dem Türsteher vorbei und steuerte auf seinen Tisch zu.
„Isch `ab misch soo nach deinem rrroten Erdbeermund gesäähnt!“, begrüßte Antoine ihn freudestrahlend. Plastrothmann zog missbilligend die Augenbrauen hoch. Es saß noch jemand mit an seinem Tisch. Jemand, der ihm völlig unbekannt war. Ein wirklich sehr gut aussehender dunkelhaariger Mann, um die Dreißig. Aber er schätzte solche Überraschungen nicht und Antoine wusste das.
Wortlos ließ er sich auf einen Stuhl sinken. Der Kellner kam bereits mit der Tequilaflasche herbeigeeilt. Er schenkte ihm das Glas randvoll und entfernte sich sofort wieder im devoten Rückwärtsgang. Plastrothmann kippte das Glas in einem Zug hinunter, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund, schaute sein Gegenüber an und fragte:
„Und wer sind Sie?“
Antoine beeilte sich, Plastrothmanns Glas neu zu füllen und erklärte:
„Das ist der Maler von dem ich dir erzählt habe. Nikki. Wir haben uns auf der Love Parade kennen gelernt. Nikki, das ist Sigurd.“
Nikki grinste Plastrothmann völlig unbeeindruckt von seiner miesen Laune an und sagte: „Hallo.“
Künstler? arbeitete es in Plastrothmanns Gehirn. Auch das noch!
Kapitel 17
Gertrud störte es nicht im Geringsten, dass sie in den Garten geschickt worden waren wie kleine Kinder, während sich die beiden alten Männer in den kleinen Salon zurückzogen. Dort, wo Plastrothmann gewöhnlich am Freitag nach dem Essen mit Heinrich den Cognac nahm. Nun fühlte sich Plastrothmann auf unangenehme Weise in die Sommer seiner Kindheit versetzt, wenn sein Vater mit Heinrich in die Bibliothek ging und er die Nachmittagsstunden mit seiner Mutter im Garten verbrachte.
Gertrud war blond wie seine Mutter, doch damit waren die Ähnlichkeiten auch schon erschöpft. Allerdings reichte diese Assoziation schon für Heinrichs Absichten. Nur die Hängematte, die im Garten seiner Eltern zwischen zwei alte Obstbäume gespannt war, fehlte als Requisite. Doch das wäre auch zu offensichtlich gewesen für das mit eiskaltem Kalkül geschaffene Szenario. Plastrothmann verspürte die Demütigung wie eine geballte Faust in seinem Magen.
Beim Tee war kein Wort gefallen über die geforderte Eheschließung. Stattdessen ergingen sich Konrad und Heinrich ausführlich in den Erörterungen der politischen Lage und den dadurch erforderlichen Aktivitäten. Das Ganze wirkte durch die philosophischen Erläuterungen des Rassengedankens wie ein ideologischer Grundkurs. Ein Wiederholungskurs, um ihn wieder auf den geraden Pfad der Tugend zu bringen. Auch das war von Heinrich beabsichtigt.
„Der Umbau und die Renovierung der Villa muss vor der Hochzeit fertig werden“, eröffnete Gertrud das Gespräch. Die Selbstverständlichkeit mit der sie eine unausgesprochene Idee zur Tatsache erhob, verblüffte Plastrothmann für einen kurzen Moment. Ihre Welt war vollkommen heil, und die Rolle, die sie darin spielen sollte, entsprach ganz und gar ihren Wünschen und Bedürfnissen sowie ihrem ausgeprägten Selbstwertgefühl. Sie kam gar nicht auf die Idee, Plastrothmann könne das getroffene Arrangement ablehnen.
„Klar, dass wir beide unser eigenes Leben weiterführen, Siggi. Die Villa ist groß genug dafür. Das Erdgeschoß ist ideal für die Repräsentation. Es werden nur einige kleine Umbauten nötig sein. Ich kenne da eine sehr talentierte Architektin. Im Obergeschoß die beiden Schlafräume, Bäder und Ankleideräume. Und dein Arbeitsraum. Die Dachwohnung lasse ich für mich umbauen.“
Plastrothmann machte eine abwehrende Handbewegung. Gertrud reagierte mit scharfem, schneidendem Ton:
„Die Wohnung besitzt einen eigenen Zugang. Das brauche ich, wenn ich Schüler empfange oder meine Freundinnen.“
„Und wo sollen wir Gäste unterbringen? Vielleicht in deinem Schlafzimmer?“, fragte Plastrothmann sarkastisch. Gertrud blieb gelassen.
„Die Wirtschaftsküche im Souterrain.