Wie aus einem totalen Kollateralschaden ein kollateraler Totalschaden wurde. Harald Hartmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Harald Hartmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742775450
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worden waren. Das aber nur nebenbei. Oder vielleicht doch nicht. Vielleicht lag nämlich in dieser, oberflächlich betrachtet, Nebensächlichkeit bei näherem Hinsehen eine der Hauptursachen, vielleicht sogar die Quelle dieser tragischen Entwicklung, die die Welt in den Abgrund reißen sollte. Vielleicht ließ sich hier aus dem Knäuel des Ursachengewirrs der entscheidende Faden herausziehen. Denn eigentlich hätte alles gar nicht so schlimm kommen müssen und hätte nicht alle Dimensionen des menschlichen Vorstellungsvermögens und der menschlichen Vernunft, an die sogar die Pessimisten ihren Optimismus verschwendeten, sprengen müssen, wäre die Mundhygiene von Burkhard Börns auf höherem Niveau gewesen.

      So unspektakulär und langweilig es auch klingen mochte, er verbreitete von Zeit zu Zeit einen unangenehmen, schwer zu ertragenden Mundgeruch, den man natürlich hier noch genauer und facettenreicher beschreiben könnte, aber, wenn man daran dachte, auch nicht wirklich musste. Wichtig zu wissen, war, dass heute diese Zeit war, die von Zeit zu Zeit eintrat. Die Praktikantin, die grundsätzlich den Avancen eines Mannes von solcher Tatkraft und solch maskuliner, fast heißblütiger Ausstrahlung, für die sie eine Schwäche hatte, nicht abgeneigt war, reagierte angewidert. Ihr aus der Distanz existierendes Gefühl der Bewunderung für ihn schlug bei seiner Annäherung in eine direkt und echohaft antwortende Abstoßungsenergie um, und im gleichen Maße schroff fiel ihre Ablehnung aus.

      Hinterher, nachdem Burkhard Börns schon weg war, hatte sie sich Vorwürfe gemacht und sich gefragt, ob sie nicht besser das peinliche Thema angesprochen hätte. Aber jetzt war es natürlich zu spät. Doch sie tröstete sich damit, dass morgen ja auch noch ein Tag wäre. Das war eine absolut berechtigte Hoffnung weil es immer schon so gewesen war. Doch tatsächlich wissen konnte man es natürlich erst, wenn es wieder hell wurde. Sie nahm sich also fest vor, mit ihm darüber zu sprechen, gleich wenn er ins Büro kam. Und schon ging es ihr wieder besser. Um dann aber keinen dummen Fehler zu machen, wollte sie sich vorher mit ihrer besten Freundin vertraulich darüber beraten, wie sie es psychologisch am geschicktesten anstellen konnte, ohne ihn zu verletzen. Sie mochte ihn ja eigentlich, und wenn sie an seine private Situation dachte, konnte sie ihn und seine Absichten gut verstehen, ob romantisch oder nicht.

      Es war ja so, dass seine Frau 500 km entfernt wohnte. Sie hatten keine Kinder, und seit gut einem Jahr folgte sie einem dubiosen Guru, der sie von der Wiedergeburt überzeugt hatte. Vielleicht war es aber auch so, dass der Guru seiner Frau folgte, weil sie ihn von irgendetwas anderem überzeugt hatte, wovon diese aber wahrscheinlich gar nichts wusste. Möglicherweise folgten sie sich aber auch einfach nur gegenseitig. Aber das alles waren nur Spekulationen, an denen man sich beteiligen konnte, wenn man Muße dazu fand.

      Jedenfalls war die Sache mit der Wiedergeburt nicht alles. Er hatte sie außerdem davon überzeugt, bis dahin nur noch Gemüse zu essen und auf Alkohol ganz zu verzichten. Ein weiterer Punkt, der ein harmonisches Familienleben stark störte, wie er seiner Praktikantin einmal erzählt hatte in einem Anfall wehmütiger Erinnerungen an spaßigere Zeiten, war, dass seine Frau auf Anraten ihres Gurus, mit den Hühnern zu Bett ging, dafür aber auch mit ihnen aufstand, um zu meditieren. Und was ihn fast wahnsinnig machte, so hatte er geklagt, war dieses ewige Lächeln, dieses ewige, milde, verständnisvolle, erleuchtete Lächeln.

      Zu genau dieser Zeit begab es sich, dass ihm die Arbeit in Berlin zu seiner großen Erleichterung über den Kopf zu wachsen begann, so dass er dort mehr und mehr Wochenenden verbringen musste und nur noch wenig Zeit für seine Frau erübrigen konnte oder vielmehr wollte.

      Die Praktikantin erging sich, in Anbetracht dieser Umstände, in vollstem Verständnis für ihn, so wie jede gute Praktikantin es täte und dachte daran, dass sein Mundgeruch zur falschen Zeit sehr bedauerlich gewesen war. Und das nicht nur für ihn. Ein verständnisvoller Rückblick in die Vergangenheit war manchmal besser für das eigene Wohlbefinden als ein verständnisloser Vorblick in die Zukunft, besonders wenn sie schon voll im Gange war.

      5

      Willi Winkowski, der Fahrer des geheimen Transports, hörte von dem vor ihm liegenden und inzwischen schon 20 km langen Stau im Radio. Kurz entschlossen änderte er eigenmächtig die vorgegebene Route und verließ die Autobahn an der letzten Ausfahrt vor dem Stau. Willi Winkowski, ein langjähriger, sehr zuverlässiger LKW-Fahrer eben dieser deutschen Spedition, die vor kurzem noch im Kopf von Burkhard Börns ihr Unwesen getrieben hatte, war nicht eingeweiht in Einzelheiten über die Art seiner Fracht. Es kam immer, wie es kam, und es kam immer wieder einmal vor, dass er lieber nicht wissen wollte, was er transportierte. Dieses Gefühl hatte er auch dieses Mal gehabt. Er hatte gespürt, dass das kein stinknormaler Job war, dazu hatte er einfach zu viel Erfahrung. Die Geschichte beunruhigte ihn jedoch nicht weiter, denn mit irgendwelchen besonderen Transporten, über die man ihm keine Einzelheiten erzählen wollte, hatte er inzwischen soviel Routine, dass es für ihn keinen Unterschied mehr machte, ob er Bescheid wusste oder nicht. Was er aber wusste, war, dass er für diese speziellen Transporte mehr Geld bekam, auch in bar, und deshalb machte er sie sogar gerne.

      Er machte es also wie immer und suchte den schnellsten Weg. Er kannte alle möglichen Ausweichrouten und Schleichwege, er musste sie auch kennen, um im Berufsalltag die vorgegebenen, immer zu knapp bemessenen Zeiten einhalten zu können. Dieses Mal war es erstaunlicherweise anders gewesen, noch anders als bei anderen Spezialaufträgen, was auch der Grund war für sein eigenartiges Gefühl bei diesem Auftrag. Die Zeit war nämlich sogar so großzügig bemessen, dass er verwundert einige Male heftig in seinen mächtigen Vollbart gepustet und sich gefragt hatte, ob die Firmenleitung vielleicht überraschend bemerkt hatte, dass die Fahrer Menschen waren.

      Heute also, bei diesem Transport, herrschten für ihn die besten Bedingungen, die ein LKW-Fahrer haben konnte. Es gab nicht den üblichen Stress, und es wäre überhaupt nicht nötig gewesen, dem Stau auszuweichen, um Zeit zu gewinnen. Er hätte den Stau in Ruhe aussitzen können, ohne seine Nerven strapazieren zu müssen. Doch dieses Mal hatte er sich einen eigenen Zeitplan vorgegeben, weil er gerne rechtzeitig ankommen wollte, um sich das Champions-League-Finale, in dem sein Lieblingsverein stand, heute Abend im Fernsehen anzusehen. Seit er vor zwölf Jahren aus Polen gekommen war, um in Deutschland zu arbeiten, war er ein Anhänger des Fußballvereins von Bayern München, ganz einfach, weil er zu den Besten, zu den Siegern gehören wollte. Warum sollte er sich mit weniger zufrieden geben? Der heutige Abend würde wieder einen Triumph bringen, und am Ende, da war er sicher, würde er vor lauter Freude bestimmt nicht mehr tanzen können.

      So also fuhr ein LKW-Fahrer mit einem Kopf voller Fußbälle, die ihn zur Eile antrieben, durchs Land. Was er bei seiner eigenmächtigen Routenänderung nicht wissen konnte, war, dass eine 21jährige Praktikantin einen Politiker bei seinen Annäherungswünschen zurückgewiesen hatte, und er als Folge davon einen kurzen, unerwarteten und tödlichen Kontakt mit dem Urheber seines Transportauftrags haben würde. Die Frage war, ob man dem Fahrer einen Vorwurf machen konnte, weil er solche Umstände mit in seine Überlegungen und Vorbereitungen hätte einbeziehen müssen. Gleich wie, verpasst hat er an diesem Abend zum Glück aber nichts, weil das Spiel wegen der katastrophalen Ereignisse des Tages abgesagt worden war. Verloren hatte er somit auch nichts, weil seine zwanzig Euro Wetteinsatz auf einen Sieg der Bayern wieder zurückerstattet werden würden, was aber nun in seinem Fall nicht zu geschehen brauchte.

      Burkhard Börns war wie durch ein Wunder dem ganzen von ihm angerichteten Durcheinander heil entkommen und raste mit dem gestohlenen Porsche weiter durch Berlin. Irgendwann wurde es dunkel, und er sah nichts mehr. Er hörte einen Knall, und dann hörte er auch nichts mehr. Denn er hatte den Wagen in eine Tiefgarage gelenkt, ihn gegen eine Wand gesetzt und dabei den Airbag ausgelöst. Nachdem das Motorengeräusch verstummt war, hatte er sich ein wenig zur Seite geneigt und war dann eingeschlafen, zu alledem auch noch unberechtigterweise auf einem Frauenparkplatz.

      Die Politiker der Tafelrunde im Verteidigungsministerium konnten indes in Unkenntnis all dieser Umstände nur den Kopf über das Geschehene schütteln, weil sie nicht eindringen konnten in den Ereigniskörper, weil sie nicht durch die harte Oberfläche stoßen konnten und weil es so für sie nichts zu verstehen gab. Doch selbst wenn man ihnen alles wahrheitsgemäß erzählt und erklärt hätte, wäre es von wenig Nutzen gewesen, weil sie immer nur gelernt hatten, mit unrealistisch vereinfachten Modellproblemen zu arbeiten, um so am Ende zu